Massentierhaltung Kein Land in der EU produziert mehr Schweinefleisch als Spanien. Doch immer neue Megaställe belasten die Umwelt und machen die Anwohner krank. Jetzt droht die Blase zu platzen
Das Schweinesystem in Spanien steht am Abgrund – Protest gegen Massentierhaltung in Madrid
Foto: Marcos del Mazo/Lightrocket/Getty Images
Ana Belén Bravo und ihre Familie leben im südöstlichen Spanien seit sieben Jahren direkt neben einem großen Schweinemastbetrieb. Zwischen Wohnzimmerfenster und einem hallenartigen Stall liegen exakt 35 Meter. Das war nicht immer so. 2015 beschlossen die Nachbarn, zu denen man eigentlich ein gutes Verhältnis hatte, ihren Mastbetrieb auszubauen: Statt 200 Schweinen mästen sie seither 1.300, dazu noch 300 Stiere. Neben den Ställen finden sich zwei große Güllebecken. „An den Geruch gewöhnt man sich nie. Wir können nicht einmal frische Wäsche draußen zum Trocknen aufhängen. Der Geruch klebt förmlich daran“, klagt Melchora Martínez, Bravos Mutter.
Das Haus liegt inmitten der Gärten Lorcas, wie das Geb
ie das Gebiet südlich der Stadt Lorca heißt – mit einer Fläche von 1.600 Quadratkilometern die zweitgrößte Gemeinde des Landes, sie umfasst 39 Dörfer und Weiler. Eine flache Gegend, geprägt von Gemüseäckern und Obstplantagen, die von oben betrachtet einer Patchworkdecke aus warmen Beige-, Grün- und Brauntönen gleicht. Fast 100.000 Menschen leben hier. Nachbarn mit KopfschmerzenAna Belén Bravo wirkt blass und müde. Sie sitzt zurückgezogen im Ohrensessel und lässt lieber ihren Mann José García reden. Ammoniak, ein Gas, das die Exkremente der Tiere an die Luft abgeben, verursacht schädlichen Feinstaub, sein stechender Geruch löst bei Bravo Kopfschmerzen aus. Der Gestank und die Fliegenplage machten nicht nur krank, klagt García, sie zerstörten auch das soziale Leben der Gegend. „Verwandte und Freunde haben inzwischen aufgehört, uns zu besuchen. Das ist kein Leben.“ Zwei Jahre war Bravo wegen einer Depression krankgeschrieben. Noch heute ist sie in Behandlung. „Mein Arzt riet mir, ich solle wegziehen. Wir haben auch versucht, unser Haus zu verkaufen, aber niemand will es.“ Die enorme Menge an Gülle, welche eine intensive Schweinemast hinterlässt, sei auch für die Umwelt eine große Belastung, meint Gloría Martín, Stadträtin für die linksgrüne Partei Izquierda Unida/Verdes. „Die Gülle verursacht jeden Tag das Fünffache der täglichen Abwassermenge aller Bewohner Lorcas.“ Aus Lastkraftwagen werde die Gülle aus dicken Rohren auf die Felder gepumpt – und dies unkontrolliert. Das Gemüse gehe dann in Supermärkte überall in Europa, so Martín.Unzufrieden mit der Situation, wenn auch aus anderen Gründen, sind ebenso die Schweinebauern selbst. Und zwar so sehr, dass eine Gruppe von ihnen am 31. Januar das Parlamentsplenum in Lorca gestürmt hat. Die Polizei sah sich außerstande, die wütende Menge aufzuhalten. Die Bauern verhinderten, dass eine Norm verabschiedet wurde, die einen Mindestabstand zwischen Schweinemastbetrieben und Wohnhäusern von 1.500 Metern vorsah. Die Aufrührer verletzten Polizisten und bedrohten Politiker, sieben Personen wurden verhaftet. Die beiden Oppositionsparteien, die rechtsextreme Vox und der konservative Partido Popular (PP) hätten den Angriff angestiftet, indem sie gezielt Falschinformationen verbreiteten, wie die erbosten Bauern Tage nach dem Überfall erklärten und zum Beweis entsprechende Handy-Nachrichten vorlegten. „Das war ein Attentat auf die Demokratie“, sagt der Bürgermeister von Lorca, Diego José Mateos Molina, von der Sozialistischen Partei PSOE, der den Vorfall mit dem Ansturm auf das Kapitol in Washington vom 6. Januar 2021 verglich.Wochen zuvor schlug ein Interview des Verbraucherministers Alberto Garzón von der Linkspartei Podemos im britischen Guardian hohe Wellen. Darin kritisierte Garzón die Massentierhaltung und rief die Spanier zu weniger Fleischkonsum auf. Politiker von PP und Vox rissen Aussagen Garzóns aus dem Zusammenhang, um die linke Regierungskoalition aus PSOE und Podemos in Madrid anzuschwärzen und im gerade stattfindenden Wahlkampf in der Region Castilla-La Mancha zu punkten. Das strahlte laut Stadträtin Martín auch nach Lorca aus. PP und Vox übertrumpften sich gegenseitig mit Falschbehauptungen, um Wähler an sich zu binden. „Die Protestierenden glaubten tatsächlich, wir wollten ihre Betriebe schließen. Unter ihnen war sogar ein Ziegenbauer, den diese Norm gar nicht betraf.“Am liebsten FeigenDie Zahl industrieller Mastbetriebe explodierte in den vergangenen Jahren in ganz Spanien, das Deutschland 2021 den Rang des größten Produzenten von Schweinefleisch in der EU ablief. Die 2018 in China ausgebrochene Afrikanische Schweinepest hat diese Tendenz begünstigt. Der weltgrößte Verbraucher von Schweinefleisch musste wegen der Seuche beachtliche Mengen importieren. Von den fünf Millionen Tonnen Schweinefleisch, die Spanien 2020 produzierte, ging über die Hälfte (55 Prozent) ins Ausland – der Löwenanteil (1,2 Millionen Tonnen) an China.José Parra trägt einen beigefarbenen Overall und eine weiße Kappe. Die Geräuschkulisse aus Scharren, Schnaufen und Grunzen der 1.300 Schweine ist vor der Stallhalle deutlich zu hören. Geht die Tür auf, heben alle Tiere wie bei einer Kettenreaktion den Kopf. Für einen Augenblick wird es still. Der Geruch ist streng und hängt noch Stunden später in der Nase. „Ich miete die Schweine sozusagen. Ich bekomme die Ferkel mit einem Gewicht von im Schnitt 22 Kilo und mäste sie vier Monate, bis sie 110 Kilogramm wiegen. Dann werden sie abgeholt, und das Ganze beginnt von Neuem, drei bis vier Mal im Jahr.“ Pro Tier erhält Parra zwischen 13 und 15 Euro.„Integrationssystem“ heißt diese Art der Produktion, bei der die Bauern ein kleines Rädchen in einem auf Effizienz und Kostenreduktion getrimmten Massenbetrieb sind, der von einer Handvoll Konzernen kontrolliert wird wie der Fuertes-Gruppe, die zu den fünf wichtigsten Lebensmittelunternehmen weltweit gehört. Dazu zählt ebenso die Costa Food Group, ursprünglich ein Futtermittelbetrieb. Schweinebauern, die nicht „integriert“ sind, gehen in der Regel unter. Bereits 75 Prozent mussten auf das „System“ umsteigen.Die unter Vertrag genommenen Bauern stellen die Stallanlage zur Verfügung und übernehmen die Energiekosten. Die Ferkel, das Futter und die medizinische Versorgung kommen vom Konzern. Die Errichtung einer Stallanlage koste um die 150.000 Euro, so Parra. Viele Bauern müssten dafür Kredite aufnehmen, doch passiere es immer öfter, dass sie mit ihren Anlagen nicht in Betrieb gehen können, weil sich Nachbarn beschweren und dadurch keine Genehmigung erteilt wird. „Es steht dann vor dem Ruin, wer nicht produzieren kann“, sagt der über 60-Jährige, dessen Betrieb gut läuft.Die Bauern befürchten einen MarkteinbruchStadträtin Martín spricht von einer Blase, die demnächst platzen könnte, da sich in China der Schweinefleischsektor wieder erhole. Bereits im Vorjahr sanken die Exporte dorthin spürbar. Bei vielen Bauern lägen die Nerven blank, und da kämen die rechten Parteien, um die Situation für ihre Zwecke auszunutzen. Für Alfredo Artero, Parras Nachbar und ebenfalls Schweinebauer, ist klar, warum die Stimmung so aggressiv ist. „Früher hatten wir hier Schweine für die Selbstversorgung. Aber wenn der Nachbar plötzlich 500 oder 1.000 Tiere hat, dann stört das, weil massiv mehr Gülle anfällt. Wird eine solche Entwicklung nicht vom Gesetzgeber begleitet, verursacht das Konflikte.“ In Lorca hätten die sich jahrelang angestaut. Von 2008 bis 2019 stellte der rechte Partido Popular den Bürgermeister von Lorca. 2015 wandten sich Ana Belén Bravo und José García an die damalige Stadträtin für Raumplanung, um die Schweinemast ihres Nachbarn zu verhindern. „Sie sagte uns: ‚Geht doch vor Gericht!‘ Die Betroffenen waren ihr vollkommen egal. Sie vertrat nur Lobbyinteressen“, so García, der daraufhin eine Bürgerplattform gründete, um gegen diesen Missstand zu kämpfen. Hunderte Familien schlossen sich ihm an. Ähnliche Initiativen kamen auch in anderen Regionen zustande. Schließlich geht die Zunahme der „macrogranjas“ (Megafarmen) nicht nur auf Kosten der Lebensqualität von Anwohnern. Derartige Betriebe belasten auch Klima und Umwelt schwer.Das zeigt sich etwa im Mar Menor, Europas größter Salzwasserlagune nahe Murcia, östlich von Lorca. Zweimal ist das unter Schutz stehende Gewässer in den vergangenen vier Jahren schon gekippt. Eine Folge der Schadstoffbelastung durch Düngemittel, die bei Starkregen gleich tonnenweise in die Lagune gelangen. Der intensive Obst- und Gemüseanbau rundherum gilt als Hauptursache dieser Verunreinigung, doch es gibt einen weiteren Grund: die Ausbreitung der Massentierhaltung. Obwohl ein Expertenbericht bereits 2019 darauf hinwies, das Gülle-Management sei nicht unter Kontrolle, genehmigten die Behörden neue Mastbetriebe. Laut Umweltministerium in Madrid sind landesweit fast ein Viertel der Oberflächengewässer und des Grundwassers mit Nitraten belastet. Die höchsten Werte verzeichnet die Region Murcia. Auch das Trinkwasser ist betroffen, vorrangig in ländlichen Gebieten, wo die Behörden dessen Qualität nur in Maßen kontrollieren. Luis Ferreirim, der Agrarsprecher von Greenpeace Spanien, fordert daher ein sofortiges fünfjähriges Moratorium für die industrielle Viehhaltung landesweit – also weder neue Betriebe noch deren Ausbau. In Lorca ist José Navarro wahrscheinlich der einzige Schweinebauer, der auf extensive Tierhaltung setzt. Vor etwa 15 Jahren bewahrte er die letzten Exemplare einer lokalen Schweinesorte, den „chato murciano“, vor der Schlachtung. Das Fleisch dieser Tiere habe ein ganz besonders Aroma, denn die Schweine fressen am liebsten Feigen. Stolz zeigt er ein Video, auf dem die Schweine zwischen Feigenbäumen weiden. Doch die Umstellung war nicht leicht. „Es gab Momente, in denen ich dachte, es geht sich nicht aus“, so Navarro. Heute kann er sich vor Bestellungen kaum retten. Er beliefert regionale Gourmetrestaurants und Metzgereien. Den doppelt so hohen Preis bezahlen gut betuchte Kunden gern. Die 1.500-Meter-Abstandsnorm ist übrigens doch noch verabschiedet worden. Drei Wochen nach dem Ansturm.
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