Führt Moral zum Glück? Auf diese Formel ließe sich die Leitfrage bringen, die den Tübinger Ordinarius für politische Philosophie in seinem neuen Buch bewegt: Seit den Anfängen des 19. bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, als man Moral entweder für zu durchsetzungsschwach oder für bürgerliche Ideologie hielt, hätte man diese Frage entweder gar nicht zu stellen gewagt oder sie mit einem klaren "Nein" beantwortet. Glücklich mit Moral wird höchstens der Reiche, der sie sich leisten kann. Der Arme geht mit ihr unter. Will der Slumbewohner dem Leben nur ein wenig Glück abringen, dann darf er sich nicht an den mosaischen Geboten orientieren, sondern muss schwarzfahren, muss lügen, muss betrügen und stehlen.
G
n.Genau hier erhebt Höffe Einspruch und erklärt nicht nur diese Gegenwartsdiagnose für verfehlt und unangemessen. Man kann, argumentiert er, die Welt für noch so verdorben und gottverlassen halten - einer Analyse, der man spätestens seit 1989 nicht unbedingt folgen muss - und auf die vielen Fälle hinweisen, wo Verbrechen unbestraft bleiben: der Umkehrschluss erweist sich allemal als fragwürdig: Verbrecher können kaum glücklich werden, leben sie doch ständig mit dem Risiko der Entdeckung. Vielmehr braucht der Mensch, so Höffe, zunächst Moral für die Selbstachtung, die eine wichtige Voraussetzung für das eigene Glück darstellt. Wenn er sich darauf beschränken würde, sein Glück in Konfrontation zu seinen Zeitgenossen zu suchen, würde er sich von ihnen abkapseln. Doch zum Glück gehört das Miteinanderleben.Sie würden ihm auch bei seinen Bemühungen kaum behilflich sein, ihn sogar behindern. Verhielte er sich dagegen ein gutes Stück weit altruistisch und rücksichtsvoll gegenüber seinen Mitmenschen, müsste er nicht mit Widerständen rechnen. Vielleicht würden sie ihn sogar unterstützen. Ergo: seine Chance, sein Glück als Tugendhafter zu finden, erscheint sogar aussichtsreicher, als wenn er nur seinen egoistischen Interessen folgen würde.Indem Höffe den Menschen derart als ein Wesen begreift, das sich an der Moral orientiert, also als ein Wesen, das sich sinnvoller Weise darum bemüht, mit anderen zusammen zu leben, knüpft er an eine Tendenz in der Ethik des 20. Jahrhunderts an, die von Sartre über Emmanuel Lévinas zu John Rawls verläuft. Die weist die traditionelle ethische Dichotomie zurück, den Menschen entweder als egoistisches oder als altruistisches Wesen zu entwerfen. Höffe verknüpft dazu die Kant´sche Idee der moralischen Autonomie und der Freiheit mit einer auf Aristoteles zurückweisenden, am Glück des Menschen orientierten Ethik, die heute recht populär unter dem Namen Lebenskunst segelt. Ihr Vordenker ist Michel Foucault.Der Lebenskunst geht es primär um das individuelle Glück. Die rationale Ethik zielt auf allgemein verbindliche Normen und bindet damit den einzelnen in die Gemeinschaft ein. Doch Lebenskunst und Moral - so Höffes zentrale These - schließen sich nicht grundsätzlich aus, sie überschneiden sich in vielfältiger Hinsicht, wiewohl sie miteinander nicht identisch sind. Das moralisch gute Leben ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für das glückliche Leben.Liegt hier indes nicht der Einwand nahe, Moral unterwerfe das Individuum nur disziplinatorisch der Gemeinschaft und zerstöre damit strukturell die Glücksfähigkeit des Individuums? Nein - Höffe versteht die Ethik der Freiheit nicht als autoritär. Das Individuum gehorcht nicht blind politisch ethischen Führern, die ihm Normen vorgeben. Stattdessen fordert die Moral im Anschluss an Kant den einzelnen zum Selbstdenken, zum Reflektieren auf, was ihn natürlich dazu führt, sich um die angemessenen Begriffe und Urteile zu kümmern. Moral im Kant´schen Sinn setzt auf die Freiwilligkeit und kann gar nicht gewaltsam Unterwerfung erzwingen.Aber wenn der Einzelne dann wohlüberlegt die Moralität einsieht, folgt daraus nicht trotzdem die Hingabe an die Gemeinschaft. Genau hier dementiert Höffe die Meinung, dem Moralismus wohne eine rigoristische Tendenz inne. Die Ethik der Freiheit, des Selbstdenkens führt keineswegs in einen radikalen Altruismus. Natürlich fordert sie zu Hilfsbereitschaft, Mitleid, Wohlwollen, zu Freigiebigkeit und zur Gerechtigkeit auf. Das sind eben keine rigorosen Moraltugenden, vielmehr verlangen sie moderate Verhaltensweisen!Aber, fragt man sich, impliziert diese Ethik nicht doch Unterwürfigkeit, wenn schon nicht gegenüber der Gemeinschaft, dann vielleicht gegenüber den ethischen Normen? Nach Kant darf man nicht lügen, auch wenn die Gestapo nach einem versteckten Juden fragt. Genau hier folgt Höffe Kant denn auch nicht. Die Ethik der Freiheit verlangt keinen blinden Gehorsam gegenüber Normen, wenn dadurch ungerechte Verhältnisse bestärkt werden. Sie fordert Zivilcourage, wenn geltende Gesetze gegen höhere ethische Normen verstoßen, wie die Würde des Menschen, die der Rassismus offenbar verletzt.Nur taugt - so Höffe - die Ethik natürlich auch nicht dazu, soziale Verhältnisse politisch zu revolutionieren oder zu restaurieren. Die Ethik liefert ein differenziertes Instrumentarium, um das Handeln wie auch politische Verhältnisse zu beurteilen und zu gestalten. Aber das muss natürlich sehr reflektiert und vorsichtig geschehen. Wer es hierbei eilig hat, gerät dann sehr schnell aus den Bahnen der Ethik hinaus und in eine fatale politische Praxis hinein.Aber zeigt nicht genau das die Schwäche der Ethik, weshalb von ihr weder Hegel noch Marx etwas hielten? Unterfüttert nicht die neuere Hirnforschung solche Skepsis, wenn sie experimentell belegt, dass es sich bei den moralischen Vorstellungen von Freiheit und Verantwortung um Illusionen handelt, weil der Mensch durch die Funktionsweisen seiner Nerven determiniert erscheint. Doch erstens - so Höffe - führen neurowissenschaftliche Experimente nur bestimmte neuronale Zusammenhänge vor. Dass diese Freiheit und Verantwortung darstellen, erfordert eine nachträgliche Interpretation. Zweitens setzen solche Experimente just die Freiheit und Rationalität der Forscher voraus, arbeiten also mit Voraussetzungen, die sie eigentlich widerlegen wollen.Trotzdem, die Ethik der Freiheit verlangt im Sinne Kants unbedingte und allgemeingültige ethische Normen, an denen sich der Mensch orientieren soll. Verbirgt indes nicht die kulturelle Vielfalt mit ihren unterschiedlichen ethischen Systemen, dass es keine allgemeingültigen Normen geben kann? Für Höffe verkürzt der Relativismus damit wiederum die Realität wie schon der Einwand, dass Moral nicht glücklich machen könne. Denn es gebe auch zahlreiche Übereinstimmungen zwischen den Kulturen. Höffe verweist dabei auf Gemeinsamkeiten, wie die Reziprozität verbunden mit Großzügigkeit, das Verbot der Lüge und des Betrugs, den Respekt vor den Älteren, die Sorge für die Kinder, Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, Tapferkeit, Zivilcourage oder generell anerkannte Rechtsgüter wie Leib, Leben und Eigentum.Problematisch wird Höffes mitunter etwas trockene Art der analytischen Philosophie dort, wo er unter die kulturell überall anerkannten Normen das Inzestverbot und die Ablehnung des sexuellen Libertinismus zählt. Das stimmt nicht mehr, seit in der westlichen Welt Monogamie und Familie keine allgemein orientierende Kraft mehr besitzen und stattdessen Promiskuität, Homosexualität und vor allem die Emanzipation der Frau traditionelle Lebensformen in aller Öffentlichkeit ablösen. Dazu zählen dann auch Problemfelder wie Abtreibung, Sterbehilfe oder die Genetik. Sie alle zusammen zeigen eine ethische Bruchlinie an, die global zwischen Traditionalismus und Posttraditionalismus verläuft. Hier geht es wesentlich um die Frage des Glücks des einzelnen und damit um die Lebenskunst. Gleichzeitig aber stellt das auch die Ethik der Freiheit vor neue Herausforderungen, die noch einen weiteren Punkt auf die moralphilosophische Debatte setzen könnte.Otfried Höffe: Lebenskunst und Moral oder Macht Tugend glücklich? C.H. Beck, München 2007, 371 S., 24,90 EUR
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