Mit dem Wahlsieg Allendes 1970, besonders aber nach dem Putsch vom September 1973, rückte Chile außerordentlich stark ins öffentliche Bewusstsein der DDR. Vielen Jugendlichen, wenn nicht gar einer ganzen Generation, erschien "Chile antifascista" wie ein neues Spanien; das "No pasarán" der Volksfront in Madrid und das "Venceremos" der Unidad Popular wurden in einem Atemzug skandiert. Chilenen, die ab 1973 als politische Emigranten kamen, brachten ihre ferne Heimat mit und gaben dem realsozialistischen Alltag einige exotische Nuancen - und dem System nicht wenig Legitimität. Chile rückte auch auf der politischen Agenda weit nach oben. 50 Mal befasste sich das SED-Politbüro damit. Zwischen 1949 und 1989 standen von allen lateinamerikanischen Ländern nur Kuba (153) und Nicaragua (56) öfter auf der Tagesordnung.
Chile war seit 1973 stets auch ein Thema für die Familie Honecker. Antifaschistische Solidarität und familiäre Sympathie für den chilenischen Schwiegersohn beförderten viele, wenn nicht gar alle Fragen im Verhältnis zu diesem Land zur "Chefsache". Und dass Erich Honecker schließlich 1993/94 ein Exil und seine letzte Ruhestätte in Santiago fand, wirkt heute wie ein Schlusspunkt dieser "ganz anderen Beziehung" zwischen Chile und dem ostdeutschen Staat.
Im folgenden soll dies für die Zeit vor und nach dem Militärputsch vor 30 Jahren skizziert werden. Basis dafür sind die weit geöffneten Archive, vorrangig des SED-Politbüros (PB), neben dessen Protokollen auch Dokumente aus der Abteilung Internationale Beziehungen (IV) des ZK der SED sowie aus dem Büro von Politbüro-Mitglied Hermann Axen, der zwischen 1971 und 1989 als ZK-Sekretär für die Außenpolitik der DDR zuständig war. Bei dieser Recherche muss der schwierige Weg zwischen der Scylla nostalgisch eingefärbter Rechtfertigung von DDR-Politik und der Charybdis ihrer Pauschalaburteilung in westlich-besserwisserischer Gutsherrenart gefunden werden, wenn die historische Wahrheit zu ihrem Recht kommen soll. Da Chilenen in verschiedener Weise immer wieder meine Biographie berührt, ja oft bereichert haben - sei es als Spanischlehrer, als Gesprächspartner oder Freund - ist diese Reflexion auch mit persönlicher Nähe und Sympathie für dieses Land geschrieben. Ich denke, dass es geboten ist, dies den Leser wissen zu lassen.
Von Victor Jara bis Quilapayún
Mit dem Amtsantritt von Präsident Allende am 3. November 1970 steht Chile erstmals auf dem Tableau des SED-Politbüros. Die neue Regierung in Santiago hat gerade diplomatische Beziehungen mit Kuba und der Volksrepublik China aufgenommen, es scheint nur noch eine Frage der Zeit, dass mit der DDR ähnlich verfahren wird. Schon am 20. Oktober 1970 hat das Politbüro darüber debattiert, eine Woche später eine Regierungsdelegation zu Allendes Amtseinführung entsandt. Anfang 1971 fliegt ZK-Mitglied Kurt Seibt, zugleich Vorsitzender des DDR-Solidaritätskomitees, nach Santiago - zwei Monate später während der Leipziger Frühjahrsmesse ist es soweit: Die Chilenen unterschreiben mit der DDR eine "Vereinbarung über die Herstellung diplomatischer Beziehungen", und am 16. März 1971 einigen sich Außenminister Otto Winzer und Staatssekretär Alcides Leal über den Austausch von Botschaften.
Wie diese Beziehungen künftig zu handhaben sind, erörtert das Politbüro am 30. März. Man weiß, Chile will der DDR vor allem Kupfer verkaufen und denkt an ein Gemeinschaftsprojekt Chile-RGW (*) im Kupferbergbau. Folglich befasst sich das höchste SED-Gremium im Juli 1971 gar mit einer "Konzeption der Zusammenarbeit für den Zeitraum 1971-1975", und Ende des Jahres existiert ein "Gemeinsamer Ausschuss für wirtschaftliche, technische und wissenschaftliche Zusammenarbeit".
Bei den politischen Beziehungen sollen "systematisch" Kontakte zu allen Parteien der Unidad Popular (UP) entwickelt werden. Das trifft weniger auf die KP Chiles zu, mit der die SED ohnehin ein enges Verhältnis pflegt, sondern mehr auf die Sozialistische Partei (PS) Allendes. Die Blockfreunde von der Nationaldemokratischen Partei (NDPD) wiederum haben sich um die chilenischen Radikalen - die dritte Partei in der Unidad Popular - zu kümmern, die von der DDR-CDU um die Izquierda Cristiana, eine linke Abspaltung der bis 1970 regierenden Christdemokratischen Partei (PDC).
Mitte 1971 besucht Allendes Außenminister Clodomiro Almeyda - er ist auch Generalsekretär der Sozialistischen Partei - erstmals die DDR, die nach dem Putsch zu seiner zweiten Heimat werden soll. Die in den Verhandlungen betonte "Gemeinsamkeit in den Grundfragen der internationalen Politik" erscheint als eher unverbindliche Floskel und beschreibt keinen "sozialistischen Kurswechsel" in Chiles Außenpolitik, doch soll Santiago den Antrag der DDR auf Aufnahme in die Weltgesundheitsorganisation (WHO) unterstützen und sich besonders für eine Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen verwenden. Parallel zur diplomatischen Tuchfühlung beginnt der Austausch von Wissenschaftlern und Künstlern; chilenische Musik von Victor Jara oder Quilapayún begeistert das DDR-Publikum. Auch gibt es 1971 bereits erste Spendenaktionen, etwa für die Opfer eines Erdbebens in Chile, aber noch ist das Land nicht zum Symbol "antifaschistischer Solidarität" geworden. Dazu kommt es erst im Frühjahr 1973, als sich die Konfrontation zwischen der Unidad Popular und ihren Gegenspielern zusehends verschärft. In dieser Zeit bittet die chilenische Regierung verstärkt um finanzielle Hilfe. KP-Generalsekretär Luis Corvalán erhält in Berlin einen DDR-Kredit von 15 Millionen Dollar, mehr ist nicht möglich - trotz drängender Anfragen aus Moskau.
Als am 11. September 1973 die Militärs unter General Pinochet putschen, haben gerade drei DDR-Schiffe ihre Ladung - Lebensmittel und Medikamente aus Spenden in Höhe von 32 Millionen DDR-Mark - gelöscht und liegen noch in chilenischen Häfen. Ein neues Kapitel der Beziehungen DDR-Chile setzt ein - obwohl formal-diplomatisch nicht existent, wird es politisch-emotional das intensivste.
Von Santiago nach Berlin
"Das Politbüro ist einverstanden, dass die diplomatischen Beziehungen mit Chile unterbrochen werden. Der 1. Sekretär des ZK der SED, Genosse Erich Honecker, wird bevollmächtigt, die entsprechende Weisung zu geben" - so Punkt 16 des Protokolls der Sitzung vom 18. September 1973. Ein Katalog von Maßnahmen, angenommen eine Woche später, umfasst 20 konkrete Vorhaben: Von der Rückführung der DDR-Bürger aus Chile über protokollarische Fragen (Rumänien vertritt fortan die Interessen der DDR in Santiago) bis hin zur Gründung eines Solidaritätszentrums für Chile. In den folgenden 15 Jahren nimmt die DDR etwa 5.000 chilenische Emigranten auf und wird ein Zentrum des chilenischen Widerstandes gegen die Pinochet-Diktatur.
Mehr als die anderen Parteien der Unidad Popular sind die Sozialisten im Büro von Chile Antifascista in Berlin präsent. Die SED versucht dabei, zwischen deren teils heftig zerstrittenen Flügeln zu vermitteln, unterhält jedoch die engsten Kontakte zu der von Almeyda geführten Gruppierung. Die Auslandsleitung der KP sitzt in Moskau - Volodia Teitelboim, der nach der Internierung von Luis Corvalán die Partei führt, fliegt aber wiederholt zu Gesprächen mit Erich Honecker nach Berlin.
Bereits seit Herbst 1973 gibt es immer wieder aufwändige Solidaritätskampagnen für den inhaftierten KP-Generalsekretär. Als Luis Corvalán schließlich im Dezember 1976 im Austausch gegen einen sowjetischen Dissidenten freikommt, wird das als "Sieg der Kräfte des Fortschritts" und Beispiel von "moralischer Größe" gefeiert, "das unsere Jugend zu immer größeren Taten für Frieden und Sozialismus, für die allseitige Stärkung unserer sozialistischen DDR anspornt". Vom Gefangenenaustausch kein Wort, zumindest nicht in der Öffentlichkeit.
Die materielle Hilfe für die Familien der Emigranten ist - gemessen am DDR-Lebensstandard - erheblich und führt mitunter bei der Bevölkerung zu leisem Unmut, wenn die lang ersehnte Neubauwohnung an Chilenen vergeben wird. Dennoch ist und bleibt Chile omnipräsentes Symbol antifaschistischer Solidarität: kaum eine offizielle Veranstaltung ohne chilenische Emigranten; Schulen, Kasernen oder Genossenschaften erhalten die Namen von Allende, Neruda oder Victor Jara. Dass es "eine Herzenssache für Millionen DDR-Bürger" war - so 1998 die PDS in einer Erklärung zum 25. Jahrestag des Putsches - mag übertrieben sein, aber Sympathie für den chilenischen Widerstand und Bereitschaft, die verfolgten und oft gefolterten Menschen zu unterstützen, ist bei einer Mehrheit in der DDR tatsächlich vorhanden. Solidarität muss in diesem Fall nicht dekretiert werden.
Es kommt hinzu, dass Lateinamerika auch in der DDR stets "Fluchtpunkt" revolutionärer Ideen und Visionen bleibt. Außerdem verfügen etliche Politbüro-Mitglieder über eigene Erfahrungen mit faschistischer Verfolgung, Flucht und Exil und fühlen sich deshalb vom Schicksal Chiles besonders angesprochen. Poster von Che Guevara und Allende, Corvalán und Victor Jara tauchen in den siebziger Jahren an den Wänden vieler Studierstuben zwischen Rostock, Babelsberg und Dresden auf. Es gibt Briefmarken mit den Porträts von Corvalán und Allende.
Doch wie die "Gastarbeiter" aus Kuba, Mocambique oder Vietnam leben auch die Chilenen von der DDR-Bevölkerung mehr oder weniger abgeschottet. Carlos Cerda, der viele Jahre in der DDR-Hauptstadt lebt, beschreibt in Morir en Berlín ein "ghetto triple": die Abgeschlossenheit des Landes, der chilenischen Emigranten und der "Oficina", des Büros von Chile Antifascista. Einem Teil der chilenischen Emigration, die sozial aus den Mittelschichten kommt, werden bald nicht nur die Plattenbauten des Typs WBS 70, sondern auch die DDR zu eng, gewiss auch geprägt von jener Frustration und Trauer, die für jedes Exil unvermeidlich sind. Das führt dazu, dass bereits Anfang der achtziger Jahre "Grundsätze für die Durchführung von Maßnahmen im Zusammenhang mit der Rückführung chilenischer politischer Emigranten" im SED-Politbüro beschlossen werden.
Einige Chilenen verlassen nun die DDR und gehen in ihr Land zurück; mancher gewiss mit dem Auftrag, den inneren Widerstand zu unterstützen. An der offiziellen Lesart der Verhältnisse in Chile ändert sich für die DDR zunächst nichts, Medien und Politik sprechen weiterhin vom "faschistischen Terrorregime", während neue Entwicklungen kaum wahrgenommen werden, die sich einerseits aus dem damaligen Wirtschaftsboom in Chile, andererseits aus dem Übergang von Militärdiktaturen wie Argentinien, Brasilien und Uruguay zu demokratischen Verhältnissen ergeben. Dabei muss sicher in Betracht gezogen werden, dass zwischenzeitlich - nach dem Sturz Somozas 1979 - das sandinistische Nikaragua in den Mittelpunkt der Lateinamerika-Politik wie auch der Solidaritätsbewegung in der DDR rückt.
Von Berlin nach Santiago
Mitte der achtziger Jahre gerät die Politik der DDR gegenüber Chile immer mehr zur Selbstblockade, da realistische Analysen unterbleiben, die schon aus wirtschaftlichen Interessen angebracht gewesen wären. Überall sucht man in Süd- und Mittelamerika nach Möglichkeiten, den Handel zu intensivieren und überlebenswichtige Devisen zu erwirtschaften, nur Chile, das ökonomisch floriert, bleibt außen vor. Das ist weniger einer "prinzipiellen Ablehnung" von Militärdiktaturen geschuldet, denn während der Obristenherrschaft in Argentinien ab 1976 wird weder offiziell Kritik an der Junta des Generals Videla geübt noch in den DDR-Medien über die grauenhaften Verbrechen seines Regimes berichtet. Ende der siebziger Jahre verdoppelt sich sogar der Außenhandel mit Argentinien (sicherlich auch dank eines umtriebigen DDR-Botschafters). Aber im Falle Argentiniens gibt es eben weder die "innenpolitische" noch die "persönliche" Komponente um die Familie Honecker, die der von ZK-Sekretär Günter Mittag ausgegebenen Losung "Devisen erwirtschaften!" entgegensteht. Nicht ohne Gewicht sind auch die Interessen der UdSSR, für die Argentinien in jenen Jahren wegen der Getreideimporte zum "strategischen Faktor" avanciert. Somit fallen die Beziehungen zu Buenos Aires nach den Normen sozialistischer Außenpolitik unter die Kategorie "friedliche Koexistenz", während für Chile "antiimperialistische Solidarität" im Vordergrund steht. In diesem Zusammenhang ist auch aufschlussreich, dass die DDR nach 1973 die Beziehungen mit Chiles nördlichem Nachbarn (und Intimfeind) Peru ausbaut - Peru wird "zum Schwerpunkt der progressiven Entwicklung in Südamerika" erhoben (**).
1988/89 endlich beginnen Bemühungen im SED-Zentralkomitee um eine Neubewertung des Themas Chile allmählich zu fruchten. Im März 1989 bestätigt das Politbüro eine als "Geheime Verschlusssache" eingestufte Vorlage über "Maßnahmen zur Herstellung von Kontakten mit Chile". Vorgesehen sind die "Errichtung einer Interessenvertretung der DDR mit konsularischen Rechten", reaktivierte kommerzielle Kontakte sowie der Wiederaufbau einer Freundschaftsgesellschaft DDR-Chile - umsetzen lässt sich davon nichts mehr. In den Turbulenzen der "Wende" ist die chilenische Frage ohne jeglichen Belang. Anders für die Chilenen, die noch in der DDR leben - für sie hat dieser Umbruch existenzielle Bedeutung. Mittlerweile hat es in Chile zwar freie Wahlen gegeben und politisch steht einer Rückkehr kaum etwas im Wege, aber für viele jüngere Chilenen ist die DDR zur Heimat geworden - deren Verschwinden macht sie nun wieder heimatlos. Davon abgesehen muss das wiedervereinigte Deutschland in Sachen Chile weder ein politisch missliebiges Erbe antreten wie bei Kuba, noch umfangreiche entwicklungspolitische Projekte übernehmen wie in Nicaragua oder Vietnam.
Allerdings soll das Thema DDR-Chile ab 1992 noch einen außergewöhnlichen Epilog finden. Auf der Flucht vor eigener Verantwortung, sensationsgierigen Medien und eifernden Staatsanwälten landet Erich Honecker zunächst in der chilenischen Botschaft in Moskau - deren Hausherr ist zu jener Zeit Ex-Außenminister Clodomiro Almeyda - und nach der erzwungenen Rückkehr und einem abgebrochenen Prozess gegen ihn in Berlin - schließlich bei seiner Familie in Santiago. Viele der chilenischen Emigranten tragen nach 1990 wieder Verantwortung in ihren Parteien oder im chilenischen Staat und zeigen ihre Dankbarkeit für die einst in der DDR empfangene Hilfe.
Der Autor ist heute verantwortlicher Redakteur der Potsdamer Zeitschrift WeltTrends. Als Hauptquelle seiner Recherche diente ihm die Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Zentrales Parteiarchiv (abgekürzt: SAPMO)
(*) RGW/Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe - Wirtschaftsverbund der sozialistischen Länder zwischen 1949 und 1991.
(**) Mit DDR-Verteidigungsminister Hoffmann besuchte im Oktober 1974 erstmals ein führender Militär des Warschauer Paktes dieses Land. Dem sollten ein intensiver personeller Austausch sowie umfangreiche Waffenlieferungen folgen. s. SAPMO-BArch-ZP, Sign.-Nr. J IV 2/2-1536, Punkt 18.
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