Ist ohne Gas unser Wohlstand in Gefahr? Oder nur der schlechte Status Quo?
Industrie Manche Branchen der deutschen Industrie haben dank billigem Gas damit Profite eingefahren, schädliche oder nutzlose Produkte herzustellen. Das zu ändern, wäre gut fürs Klima und die Beschäftigten
Die Lage ist ernst. Aber ist sie auch hoffnungslos? Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Die Grünen) jedenfalls gibt dieser Tage den Warner: Es drohe ein „politisches Albtraum-Szenario“, wenn Gaslieferungen aus Russland ausblieben: „Das wird Deutschland vor eine Zerreißprobe stellen, die wir lange so nicht hatten.“ Auch die deutsche Industrie sieht schwarz. Vor allem, weil der „Notfallplan Gas“ (noch) vorsieht, zunächst Krankenhäuser, systemrelevante Gaskraftwerke und private Haushalte mit Gas zu beliefern, bevor Glashütten und Chemiewerke dran sind. Vorsorglich stellte der Verband der Chemischen Industrie (VCI) diese Verabredung infrage.
So heftig aber die sozialen und wirtschaftlichen Folgen schwindender Gasflüsse werde
;sse werden könnten, so wenig Anlass gibt es, darüber die Klimakrise als die langfristig betrachtet ungleich größere Herausforderung aus dem Auge zu verlieren. Und umso schlimmer ist es, wie borniert die hiesige Politik in der immer gleichen Logik gefangen bleibt. Im Notfallmodus geht es um die reine Verteidigung des Status quo: Wie sonst ist die beharrliche Weigerung zu erklären, trotz der drohenden Kipppunkte im Erdsystem die schnellstmögliche Abkehr von fossilen Energien anzugehen? Und echte Alternativen zu suchen, statt auf wieder hergestellte Importe über Nord Stream 1 zu hoffen und die Wiederinbetriebnahme von Kohlekraftwerken und Terminals für den Import von Flüssiggas zu diskutieren?Denn eigentlich macht Wladimir Putins Erpressungspolitik mit dem billigen Gas die schon länger anstehenden Aufgaben nur noch dringender: Angesichts immer schlimmer werdender Klimaschäden und ihrer gigantischen Folgekosten sollten wir aus den fossilen Brennstoffen so schnell wie möglich aussteigen. Und das, ohne die Lasten des Umbaus auf dem Rücken der Bevölkerung abzuwälzen. Wer unter dieser Prämisse nach echten Alternativen sucht, muss in den Blick nehmen, was wir mit dem Gas eigentlich anstellen. Derzeit sieht die Lage so aus: Von den im Jahr 2021 in Deutschland insgesamt verbrauchten 994 Terawattstunden (TWh) aus der Gasverbrennung fiel der größte Anteil mit fast 37 Prozent auf die Industrie, gefolgt von den privaten Haushalten, einschließlich Wohnungsgesellschaften, mit rund 31 Prozent. Dahinter kommen die Bereiche Gewerbe, Handel, Dienstleistungen und die Stromerzeugung mit jeweils knapp 13 Prozent.Brauchen wir all das Plastik?Was in Bezug auf die Stromproduktion zu tun wäre, ist eigentlich unumstritten: ein Expressausbau von Sonnen- und Windenergie mit deutlich vereinfachten Planungs- und Genehmigungszyklen. Parallel dazu müsste die Wasserstofftechnologie als Speichermöglichkeit hochgefahren werden. So ließen sich auch Dunkelflauten überbrücken. Nur: Hier wird von der Regierung viel geredet und viel zu wenig getan.Und wie steht es um die drei anderen Hauptabnehmer von Erdgas? Den Löwenanteil verbraucht die Industrie. Konkret heißt das: Ganze Branchen haben ihre Produktion auf billiges russisches Gas ausgerichtet, um so Extragewinne zu verbuchen. Die wichtigste Frage, die in der derzeitigen Diskussion völlig ausgeblendet wird, wäre dann: Ist das gut so? Ist es so richtig, dass es jetzt zum Staatsziel werden muss, die industriellen Hauptabnehmer von Gas, die Chemie-, die Papier- und die Glasbranche, in ihrer derzeitigen Form aufrechtzuerhalten? Denn wenn – wie eine nähere Betrachtung zeigt – die real existierende Industrie mithilfe von Gas zu einem großen Teil ökologisch schädliche und sogar überflüssige Produkte herstellt, dann sollte doch eine Produktionsumstellung oder gar ein Rückbau dieser Bereiche Thema einer gesellschaftlichen Debatte sein.Der mit Abstand größte industrielle Gasverbraucher ist die Chemiebranche. Sie nutzt einen kleineren Teil des Gases als Rohstoff zur Herstellung von Stickstoffdünger. Die deutlich größere Menge wird zur Energieerzeugung für die Kunststoffproduktion eingesetzt. Brauchen wir aber wirklich so viel dieser Kunststoffe und ihre Anwendungen? Rund 70 Prozent gehen in die Produktion von Verpackungen, den Bausektor und den Automobilbereich. Dabei wäre es ein Leichtes, Verpackungen durch eine Pfandpflicht für Behälter von Shampoos, Reinigungs- oder Waschmitteln drastisch zu reduzieren. Mehrfachverpackungen könnte man per Gesetz verbieten. Das ließe sich schnell umsetzen, es wäre die Basis für eine Kunststoffkreislaufwirtschaft, die auf die Mehrfachnutzung und später nach vielfacher Nutzung ein Werkstoffrecycling setzt. Diese Maßnahmen wären ökologisch überfällig. Und sie würden die Kunststoffmengen und den Gasverbrauch deutlich reduzieren. Auch im Bausektor könnte man Kunststoffe einsparen, wenn mehr Naturstoffe wie Holz und Pflanzenfasern genutzt würden.Das Problem ist, dass die Nachfrage nach Kunststoff steigt, anstatt zu sinken. Die Automobilproduktion setzt auf Kunststoffe, um das steigende Gewicht ihrer Karossen zu verringern. Wäre es da nicht sinnvoller, Alternativen zum Individualverkehr zu fördern, die ressourcenschonender, energiesparender und gut fürs Klima sind? Die Abkehr vom motorisierten Individualverkehr – unterstützt durch den Ausbau von vergünstigten öffentlichen Verkehrsmitteln – würde auch eine Verringerung von energieintensiver Chemie-, Glas- und Metallproduktion bedeuten.Neben dem Chemiesektor ist die Papierherstellung ein Energiefresser mit extrem hohem Gasbedarf. Über die Hälfte ihrer Erzeugnisse wird für Verpackungen eingesetzt, was vor allem an der explosionsartigen Zunahme des Online-Versandhandels liegt. Wollen wir wirklich den Großteil unseres Konsums in einzelnen Paketen zugeschickt bekommen, wenn wir deswegen abhängig von Gasimporten sind?Schließlich bleibt die Glasbranche als weiterer Gasgroßverbraucher. Man hört jetzt: Glas wird in großen Wannen geschmolzen, die Anlagen dürfen nicht auskühlen. Aber warum kann man die hergestellten Mengen nicht reduzieren? Ein Großteil der Produktion besteht aus Getränkeflaschen und Gläsern für Nahrungsmittel wie Marmelade, Senf oder Oliven. Die Gläser werden mit viel Gaseinsatz hergestellt und landen nach einmaliger Nutzung im Container. Sie werden zwar recycelt, aber auch das Recycling verschlingt Energie. Eine Mehrfachnutzung und Pfandpflicht auch hier könnten das verhindern.Neben der Industrie verbrauchen Heizungen große Mengen an Gas. Das ist nur längerfristig durch eine Sanierung der Häuser zu ersetzen und durch den Einbau von Wärmepumpen, Wärmespeichern, den Ausbau von Erdwärme und städtischer Wärmenetze. Dafür bedarf es hoher und langfristiger Investitionen, weshalb es jahrelang verschleppt wurde. Doch denkt man dran, wie selbstverständlich 100 Milliarden Euro für Rüstungszwecke aufgebracht werden, erstaunt die Untätigkeit. Würde man ähnlich viel Geld dafür nutzen, um die Wärmeversorgung umzustellen, könnte man bereits in einigen Jahren auf viele teure Gasimporte verzichten.Ladenschluss um 18 UhrWas bei den Diskussionen um Gas im Gebäudesektor oft übersehen wird, ist der Sektor Gewerbe, Handel, Dienstleistungen. Den größten Energieverbrauch daran haben Bürogebäude, gefolgt vom Handel. Hier wurde bezüglich energetischer Sanierungen bisher am wenigsten getan, was im Umkehrschluss heißt: Wer hier eingreift, kann auf die Schnelle den Energieverbrauch wirksam senken. Eine besonders einfache Gaseinsparung ließe sich im Einzelhandel umsetzen, wenn nämlich im Herbst und Winter die Geschäfte bereits um 18 Uhr schließen. Auch an Samstagnachmittagen könnte der Einzelhandel ohne Weiteres zumachen, von „verkaufsoffenen Sonntagen“ ganz zu schweigen.Spätestens an diesem Punkt regt sich bei vielen wohl Protest. Gefährdet so ein wirtschaftlicher Um- und Rückbau nicht Wohlstand und Arbeitsplätze? Nicht unbedingt. Denn die kontinuierliche Aufweichung der Ladenöffnungszeiten seit den 1990er Jahren ging zulasten der Beschäftigten. Also bietet sich jetzt die Möglichkeit, bessere Arbeitszeiten zu erkämpfen, nicht nur für den Verkauf, sondern für alle Lohnarbeit.Natürlich widerspricht eine derartige Schrumpfung dem Wachstums- und Akkumulationszwang, der dem Kapitalismus eigen ist. Sie bedeutete aber nicht automatisch eine Schrumpfung menschlichen Wohlergehens. Selbstverständlich müsste man dafür jene gesellschaftlichen Strukturen ins Visier nehmen, die dazu führen, dass viele Lohnabhängige heute ein unmittelbares Interesse daran haben, energieintensive und gesellschaftlich nutzlose Tätigkeiten aufrechtzuerhalten.Ein echtes Umbauprogramm würde ein sinkendes Arbeitsvolumen positiv wenden und die allgemeine Arbeitszeitverkürzung als Ziel anpeilen. Denn der wahre menschliche Reichtum ist – wie Marx wusste – die Zeit, die zur freien Tätigkeit und Entwicklung Raum gibt. Ein ökologisch sinnvoll gestalteter industrieller Um- und Rückbau könnte also so gestaltet werden, dass der wahre Wohlstand der Menschen steigt.Sich das auf die Fahnen zu schreiben, wäre die Aufgabe derjenigen, die die Interessen der arbeitenden Menschen vertreten sollen: die Gewerkschaften. Statt den Status quo zu erhalten, müssten sie einen Umbau anstreben, der die Senkung des Energieverbrauchs mit der Neuverteilung des gesamtgesellschaftlichen Arbeitsvolumens verbindet. Dies wäre der eigentliche Schlüssel für eine sozialökologische Wende. Für die breite Mehrheit der Bevölkerung wären dann hoffnungsvolle Perspektiven denkbar. Und nicht das vom Bundeswirtschaftsminister beschworene Albtraum-Szenario.In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, der Verband der Industriellen Energie- und Kraftwirtschaft (VIK) stelle in Frage, dass Haushalte vorranging vor Industriebetrieben mit Gas beliefert würden; tatsächlich hat dies nicht der VIK, sondern der VCI getan, der Verband der Chemischen Industrie. Wir haben die Passage entsprechend korrigiert.Placeholder authorbio-1