Boris Reitschuster (32) lebt seit 1990 in Russland; seit 1999 leitet er das Focus-Büro in Moskau. Die erste Auflage seines gerade bei Rowohlt Berlin erschienenen Buches Wladimir Putin - Wohin steuert er Russland? ist mittlerweile fast vergriffen, die Lesungen sind stets ausverkauft. Der Erfolg seines Buches ist jedoch nicht allein damit zu erklären, dass es gut recherchiert und gut geschrieben ist - nach der Farce der Duma-Wahl im Dezember lässt die Euphorie deutlich nach, die Putins Politik nach dem 11. September 2001 sowie seine Rede seinerzeit vor dem Bundestag und die offizielle russische Haltung im Irak-Krieg ausgelöst haben. Der Westen sucht nach einer neuen Erklärung für das Phänomen Putin.
FREITAG: Als Putin zum Jahreswechsel 2000 als Nachfolger Boris Jelzins an die Macht gebracht wurde, war der neue Präsident im eigenen Land kaum bekannt, geschweige denn im Westen. Innerhalb von nur wenigen Monaten wurde er zum mächtigsten und beliebtesten Politiker Russlands aufgebaut. Wie konnte das funktionieren?
BORIS REITSCHUSTER: Jelzins Umgebung suchte damals jemanden, auf den sie sich hundertprozentig verlassen konnte, es musste die Gefahr ausgeschlossen werden, dass sie, die so genannte "Familie", von Jelzins Nachfolger verfolgt und enteignet wird. Nach meinen Informationen waren mehrere Kandidaten in der engeren Wahl, unter anderem der damalige Innenminister Wladimir Ruschajlo. Mehrere Theorien versuchen zu erklären, wie man letztendlich auf Wladimir Putin kam - eine der wenigen, die für mich vernünftig klingt, erklärt seinen Aufstieg damit, dass Putin als Chef des Geheimdienstes FSB kompromittierendes Material gegen sämtliche führenden Politiker Russlands in der Hand hatte, auch gegen die "Familie". Das letzte Wort soll Walentin Jumaschew gesprochen haben, der heutige Ehemann von Jelzins Tochter Tatjana, der zuvor Präsidialamtschef war. Sobald die Entscheidung getroffen war, hat man jene Werbestrategien eingesetzt, die sich schon 1996 bei der Wiederwahl Jelzins bewährt hatten. Ein Werbefachmann hatte mir damals gesagt: Für uns macht es keinen Unterschied, ob wir für einen Politiker oder für sonst ein Produkt werben, das auf den Markt eingeführt werden soll. So entstand der "Mythos Putin" - als ein Werbeprodukt mit Milliarden-Budget. Man hat Putin gezielt als Spiegelbild dessen inszeniert, was sich die Gesellschaft damals am meisten wünschte. Putin sollte das Gegenteil von Boris Jelzin darstellen: Jelzin konnte kaum noch arbeiten, Putin dagegen war jung und äußerst arbeitsfähig. Jelzin trank viel, deshalb durfte sein Nachfolger natürlich nicht trinken. Jelzin konnte kaum mehr deutlich sprechen, Putin formulierte seine Gedanken nachdrücklich und eindeutig. Für die Wähler symbolisierte Jelzin Willkür und Chaos eines schwachen, auseinanderfallenden Staates; Putin versprach das Gegenteil - den starken Staat. Die Meinungsforscher sprachen damals schon davon, dass Putin gezielt am Reißbrett entworfen worden sei als Verkörperung der Wähler-Wünsche.
Sie sind Wladimir Putin auch mehrmals persönlich begegnet. Inwiefern entspricht der Mensch Putin diesem, von Werbefachleuten konstruierten Mythos?
Es ist schon bemerkenswert, dass Putin, wenn man ihn persönlich erlebt, einen ganz anderen Eindruck macht als das in den Medien gepflegte Bild. Ob als Copilot in einem Kampfflieger, auf der Brücke eines Kriegsschiffs oder im Tarnanzug an der Front in Tschetschenien - in den Medien spielt er den eisernen Mann mit unbeweglicher Miene, der mit der Faust auf den Tisch hauen kann. In der persönlichen Begegnung erinnert er eher an den Nachbarsjungen; man hat einen zögerlichen, zurückhaltenden Menschen vor sich, der fast schüchtern wirkt. Putin macht Witze und hat einen bestechenden Charme. Aber offensichtlich kann er auch nie ganz aus seiner Haut als KGB-Mann heraus. So sieht er seinem Gesprächspartner minutenlang nicht in die Augen, um ihn dann für ein paar Sekunden mit einem scharfen, stechenden Blick zu fixieren, was das Gegenüber richtig verunsichert. Wie mir berichtet wurde, ist das eine alte KGB-Verhör-Technik. Solche Techniken setzt er offensichtlich nicht ein, wenn er mit Staatsmännern spricht, die reihenweise seinem Charme anheimfallen. Dagegen scheint es bei den Treffen mit Journalisten ein oft erprobter Trick zu sein, um zu zeigen, wer der Herr im Hause ist.
In den ersten zwei Jahren von Putins Herrschaft spürte man den unsicheren Jungen allerdings noch öfter als jetzt.
Als Politiker war Putin am Anfang ein unbeschriebenes Blatt. Man sah, dass er unter starkem Einfluss der Jelzin-Familie stand, nicht einmal zweitrangige Personalfragen konnte er damals alleine entscheiden. Er tat sich auch sehr schwer damit, politische Aussagen zu treffen; er blieb lieber undeutlich. Damals war er im Kreml eher ein Hausmeister als ein Hausherr, wie ich das in meinem Buch formuliere. In vier Jahren hat sich dieses leere Blatt aber eindeutig gefüllt.
Meinen Sie die Abrechnung mit Jelzins Erbe - die Verfolgung der so genannten Oligarchen?
Was für eine Abrechnung? Schauen wir uns einmal genau an, wer verfolgt wurde. Bis jetzt hat man ja nur drei Fälle erlebt, in denen einer der mächtigen Oligarchen ernsthaft angegriffen wurde - und alle drei Fälle haben nichts mit einer Abrechnung zu tun, ganz zu schweigen von einer Revision jenes Oligarchen-Kapitalismus-Systems, das unter Jelzin entstand. Boris Beresowskij hat es sich auch selbst mit der "Familie" verscherzt. Wladimir Gussinskij spielte schon lange gegen den Jelzin-Clan. Der letzte - Michail Chodorkowskij - war nie besonders eng mit der "Familie" verbunden und hatte sich erlaubt, sich gegen Putin zu stellen und dessen politische Gegner finanziell zu unterstützen. Alle anderen Oligarchen sind im Amt, bei bester Kasse und in Freiheit. Der Kreml will sie zwar von der Politik fernhalten, aber nicht entmachten. Das kann sich zwar noch ändern, denn einiges ist in Russland nach wie vor nicht vorhersehbar. Doch bis jetzt sehe ich keine ernsthafte Gefahr für die Oligarchen, die übrigens die neuen Spielregeln sofort begriffen und akzeptiert haben.
Wann und wie füllte sich also das leere Blatt Putin?
Der 11. September war ein wichtiger Wendepunkt. Putins Entscheidung, sich der internationalen Anti-Terror-Koalition anzuschließen, hat ihm endlich die Anerkennung des Westens eingebracht. Es gab damals in seiner Umgebung sehr unterschiedliche Stimmen, wie sich Russland neu positionieren soll. Der inzwischen entlassene Präsidialamtschef Woloschin war am meisten nach Westen hin orientiert, während die Militärs und die alten KGB-Freunde von Putin für eine neue Konfrontation mit dem Westen stimmten. Bei Putin siegte letztendlich der Realismus. Er hat begriffen, dass Russland mit einer Konfrontation nicht weiter kommt, dass das Land gar nicht die Kraft hat, um diese Konfrontation auch durchzustehen. Doch rückwirkend betrachtet lässt sich seine Entscheidung auch dahingehend interpretieren, dass Putin wie immer davon ausging, dass er es allen Seiten Recht machen könne: Nach außen hin den prowestlichen Politiker geben und nach innen das nationalistische Lager mit der Politik der harten Hand befriedigen, auch gegenüber den ehemaligen Sowjetrepubliken. Das ist die Politik, die er bis jetzt ausübt: Verbal ist der russische Präsident prowestlich orientiert, doch in der GUS, im Umgang mit den Nachbarn, etwa mit Georgien, mit der Ukraine oder Weißrussland, gibt es eindeutig eine Rückkehr zur sowjetisch-zaristischen Außenpolitik, zur Erpressung mit dem Gashahn und den Ölleitungen. Eine ganz wichtige Folge des angeblich prowestlichen russischen Kurses nach dem 11. September war die freie Hand in der Innenpolitik. Vorher ging die Kritik am Tschetschenien-Krieg nicht so spurlos wie heute am Kreml vorbei; es gab sogar Gespräche über Verhandlungslösungen mit den Tschetschenien-Führern. Das Gleiche im Bereich Zivilgesellschaft: vorher wurden noch Treffen von Putin mit Vertretern der Menschenrechtsorganisationen im Kreml veranstaltet; man versuchte einige der demokratischen Errungenschaften der Gorbatschow- und Jelzin-Zeit beizubehalten, etwa ein bisschen Pressefreiheit... Nach dem 11. September fiel der westliche Druck weg. Bundeskanzler Schröder forderte eine neue Beurteilung des Tschetschenienkrieges. Von heute auf morgen war nicht mehr die Rede von einem Krieg gegen ein Volk, das Unabhängigkeit von Russland möchte, sondern nur noch vom Krieg gegen den Terrorismus. Putin hat sich seitdem grundsätzlich verändert. Alle Versuche in Richtung Liberalisierung wurden abgebrochen, er führt die alte Politik der harten Hand fort. Ich sehe hier eine Schuld und ein Versagen des Westens.
Meinen Sie ernsthaft, dass die Kritik aus dem Westen etwas im heutigen Russland bewirken könnte?
Ja. Der Kreml registriert viel sorgfältiger, was im Westen über Putin und seine Politik gesagt wird, als man das hier glaubt. Man darf auch nicht vergessen, dass Putin ein Sonderfall ist. Er legt großen Wert auf seine Popularität in Deutschland. Im Focus-Interview sagte er uns mit fast feuchten Augen, dass Deutschland seine zweite Heimat sei und erzählte davon, wie seine jüngere Tochter ihre ersten Worte auf Deutsch sagte. Ich weiß, dass er am Anfang stark darunter litt, dass die Bundesregierung ihn mied. Die deutschen Medien stehen im Kreml unter besonderer Beobachtung, Putin wählt selbst aus, was er sich ansieht, während es bei den anderen Sprachen sein Pressedienst entscheidet. Putin denkt inzwischen in sehr historischen Dimensionen, er möchte einen Platz in der Geschichte einnehmen - und wenn man ihm deutlich macht, dass er mit seinem momentanen Kurs nicht unbedingt einen positiven Platz in Geschichtsbüchern gewinnt, regt ihn das wenigstens zum Nachdenken an.
Es gab mehrere Optionen, wer Boris Jelzin beerben würde. Auch Politiker aus dem demokratischen Lager, wie beispielsweise Boris Nemzow, waren schon mal im Gespräch. Doch der Herrscher im Kreml bekommt eine so unbeschränkte Macht, dass es manchmal unmöglich scheint, sich der Versuchung zu widersetzen, den allmächtigen Zaren zu spielen und das Realitätsgefühl zu verlieren. Wäre jeder im Kreml dazu verdammt, zum Alleinherrscher byzantinischer Prägung zu werden?
Die Versuchung ist zweifellos sehr stark. Vor kurzem habe ich darüber mit einem russischen Politiker gesprochen, der jahrelang gemeinsam mit Putin gearbeitet hat und den Präsidenten bestens kennt. Er hat es so formuliert: Putin sei inzwischen in Bronze erstarrt. Anfangs habe er sich noch um Reformen bemüht und etwas ändern wollen. Inzwischen liebäugle er mit sich selbst im Spiegel, statt zu arbeiten. Putin höre von früh bis spät nur noch, was für ein hervorragender Präsident er sei, wie richtig er alles mache, er werde nur noch angebetet. Einen ähnlichen Realitäts-Verlust habe ich erst neulich erlebt, als ich bei Eduard Schewardnadse war, dem gestürzten georgischen Präsidenten. In seinem tiefsten Inneren ist der immer noch ernsthaft davon überzeugt, dass die Mehrheit der Georgier ihn liebt und dass es nur die Amerikaner waren, die seinen Sturz herbeiführten. Doch die neueste russische Geschichte kennt auch andere Beispiele. Als Generalsekretär kam Michail Gorbatschow 1985 zu einer Macht, die noch viel größer war als die von Putin. Doch Gorbatschow war jemand, der diese Macht zu beschränken wusste. Man kann auch den Vergleich mit Deutschland im Jahre 1945 ziehen. Man hätte damals ja auch davon ausgehen können, dass die Deutschen immer einen starken Mann, einen Kaiser oder Führer brauchen, der sie regiert. Doch dann sind zwei deutsche Staaten entstanden: In einem gab es diesen starken Mann und in dem anderen eben nicht, sondern eine Demokratie, die letztendlich stärker wurde als Totalitarismus. Es braucht eine starke Persönlichkeit im Kreml, die der Versuchung der absoluten Macht widerstehen kann.
Hat Wladimir Putin das menschliche Potenzial dazu?
Ich weiß es nicht. Vielleicht hat er das bis jetzt noch versteckt und zeigt es erst später, nach seiner Wiederwahl. Dafür müsste man aber vom Westen aus stärkeren Druck ausüben.
Die Wiederwahl Putins im März gilt als sicher. Wie stellen Sie sich seine zweite Wahlperiode vor?
Es gibt zwei Varianten. Zum einen könnte Putin wie einst Juan Carlos in Spanien das System, dessen Teil er ist, von innen reformieren, den Weg in Richtung Demokratie beschreiten. Die zweite Möglichkeit wäre, den eingeschlagenen Weg weiter zu gehen, das politische System zu zementieren, in dem nicht mehr der Wähler bestimmt, wer ihn regiert, sondern die Regierung entscheidet, wen die Wähler zu wählen haben. Leider scheint mir die zweite Möglichkeit realistischer als die erste. Und selbst wenn Putin den ersten Weg wählen würde, müsste er mit erheblichem Widerstand rechnen. Er hat überall KGB-Kader in Position gebracht, die zweifellos gegen eine solche Wendung wären. Ein Kurswechsel wäre für ihn sogar gefährlich, er könnte zum Machtverlust führen. Aber wie ich es schon einmal gesagt habe: In Russland ist es äußerst schwierig, die politischen Entwicklungen vorauszusehen. Für mich sind beide Optionen noch offen.
Das Gespräch führte Dmitri Popov
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