Lick it and stick it – Geheimsprache des Blues ist sexy, aber nicht sexistisch

Interpretation Unser Autor ist selbst Musiker. Begeistert liest er Robert „Bob“ Cremers Standardwerk „Die Geheimsprache des Blues. Die wahre Bedeutung der Songtexte“ – und taucht ein, in die Faszination des Blues
Exklusiv für Abonnent:innen | Ausgabe 33/2022
Die Königin des Blues: Koko Taylor (1928-2009)
Die Königin des Blues: Koko Taylor (1928-2009)

Foto: James Fraher/Michael Ochs Archives/Getty Images

Als am 20. August 1619 ein Schiff aus dem heutigen Angola in Jamestown anlegt, Hauptstadt der englischen Kolonie Virginia, und damit die ersten 20 Sklaven in die Neue Welt verbracht werden, nimmt dieses Ereignis gewissermaßen alle kommenden gesellschaftlichen Verwerfungen und Widersprüche im „Nation Building“ dessen vorweg, was dereinst die Vereinigten Staaten von Amerika genannt wird.

Diese Verschleppung wird mit unverhohlenem, quasi dem gesamten europäischen Denken inhärentem Rassismus begründet, wonach die Schwarzen den Weißen nach körperlichen und geistigen Talenten unterlegen seien, „was ein mächtiger Hinderungsgrund für die Gleichberechtigung dieser Leute ist“. Der dies sagte, war Thomas Jefferson, der über 100 Jahre später, 1776, in der Unabhängigkeitserklärung festschrieb, dass „alle Menschen von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben und Freiheit …“ Schwarze wurden da geflissentlich außen vor gehalten, das Geschäft mit Körper und Arbeitskraft war schließlich zu lukrativ, um ihnen das Menschsein zubilligen zu können.

Doch wenn es dessen überhaupt bedürfen sollte, gibt es einen machtvollen, unumstößlichen Beweis dafür, dass es eine katastrophale, hochgefährliche Lüge ist und bleibt, den Schwarzen – wie jeder anderen Ethnie auch – das Menschsein abzusprechen. Dieser Beweis ist der Blues, der wohl menschlichste künstlerische Ausdruck überhaupt. Dass der Blues mit dem Urtrauma des Schwarzseins, der Sklaverei, so eng verwoben ist wie tiefblaues Denim-Gewebe, ist eine der Erkenntnisse von Robert Cremers großartigem Buch Die Geheimsprache des Blues über Die wahre Bedeutung der Songtexte. In zahlreichen Textpassagen weist er nach, wie sehr die Sklaverei die Schilderungen und Metaphern für ganz allgemeines Leid prägt, ob es nun Liebeskummer oder Geldsorgen sind. Da schlägt das Schicksal zu wie ein Peitschenhieb, oder ein Liebhaber läuft der Geliebten nach wie einem Maultier hinterher. Robert Cremer hat in jahrzehntelanger Arbeit eine wahre Enzyklopädie von Ausdrücken und stehenden Begriffen der Bluessprache zusammengestellt. Eingeführt von zwölf Kapiteln, taucht er tief in die Kulturgeschichte und Etymologie des Musik-Genres ein, ohne das es weder Jazz noch Rock ’n’ Roll, Swing, Pop, Soul oder Hip-Hop gäbe.

Er selbst treibt sich bereits als 16-Jähriger in den Blues-Clubs von Chicago herum, wo er als Sohn einer irischstämmigen Mutter und eines Österreichers aufwächst. Später studiert er Chinesisch, berichtet als freier Journalist aus nächster Nähe über Maos Kulturrevolution, leitet den TV-Sender der Berkeley University, lehrt an der Berliner TU technisches Englisch und bereitet in Bayreuth Doktoranden auf ihre Publikationen in Fachzeitschriften vor. Mittlerweile genießt er in Bamberg seinen Ruhestand.

Auf Papierservietten notiert

In all den Jahren hat er nie aufgehört, sich mit der Sprache des Blues auseinanderzusetzen, suchte er unermüdlich das Gespräch mit Musikerinnen und Musikern, schrieb, zuerst auf Papierservietten, dann systematisch auf Karteikarten, die Worte und ihre Bedeutung auf und schob die Arbeit an diesem Buch immer wieder vor sich her, der Meinung, dass es sicher vor ihm irgendjemand schaffen würde, eine solche Enzyklopädie zu schreiben, was jedoch nie geschah. Und so machte er sich „an die Servietten“, wie er sagt, und veröffentlichte 2020 zuerst die englische Originalversion. Inzwischen liegt das Standardwerk auch auf Deutsch vor, als über 800 Seiten starker Kaffeetisch-Wälzer, mit Fotostrecken, einer selektiven Diskografie und einem Vorwort der 1933 geborenen Blues-Legende Bobby Rush, der dem Werk quasi seine Absolution erteilt.

Nie zuvor hat es so ein Buch gegeben, hat sich jemand diesem im Grunde nur als gesprochene Sprache existierenden Idiom so wissenschaftlich fundiert gewidmet. Ihm selbst fällt bereits als Teenager im Blues-Schuppen Theresa’s Lounge, wo er von der Chefin persönlich unter ihre Fittiche genommen wird, auf, dass bei den Sessions die Texte ständig umgewandelt und neu entwickelt werden, sich mitunter gänzlich unterscheiden von den von ihm bereits leidenschaftlich gesammelten Aufnahmen auf den Platten. Und dass das Publikum diese Veränderungen und Anpassungen jeweils frenetisch feiert und kommentiert. Es handelt sich also um eine äußerst lebendige Sprache, die sich permanent weiterentwickelt und sich den gesellschaftlichen Veränderungen anpasst.

Und es handelt sich um eine keineswegs jugendfreie Sprache. Ihre Doppeldeutigkeiten blättern sich für Bob Cremer erst nach und nach richtig auf. Aufforderungen, in die Küche zu kommen und Brot zu backen, beispielsweise haben sehr wenig mit Kulinarik und sehr viel mit Sex zu tun. Auch wenn eine Sängerin anmerkt, der Liebhaber mache es „better like a stamp on a letter: Lick it and stick it!“, geht es ganz und gar nicht um die Gebührenordnung des U. S. Postal Service. Überhaupt fällt schon nach kurzer Lektüre auf, dass die Sprache des Blues eine gleichberechtigte Sprache ist. Frauen und Männer sprechen hier gemeinsam von Freud und Leid. So sexuell handfest aufgeladen die Anspielungen und Redewendungen auch sind – so gut wie auf jeder Seite ist von einem Synonym für Sex die Rede –, so wenig sexistisch ist das alles. Hier geht es um den Ausdruck elementarer Bedürfnisse und nicht um die Reduzierung von Menschen auf ihr Geschlecht oder die Geschlechtsmerkmale – auch wenn diese in immer neuen Begriffen umschrieben und besungen werden.

Auch die in den 1920ern aufkommenden Abstufungen der jeweiligen Schwärze der Hautfarbe sind nicht rassistisch, da keine Wertigkeiten damit verbunden sind, sondern Vorlieben und Identitäten ausgedrückt werden. Dafür gibt es für Weiße das schöne Schimpfwort „honky“, abgeleitet von den „Hungarians“, die offenbar nicht sehr beliebt waren in der Community.

Die Geheimsprache des Blues ist ein wichtiger Beitrag zu aktuellen Postkolonialismus- und Identitätsdebatten und ganz allgemein im Kampf gegen strukturellen Rassismus. Die extrem reiche Sprache ist ein machtvolles Instrument, das für die unglaubliche Stärke steht, trotz des ganzen Scheiß von Marginalisierung und Unterdrückung nie im Opferstatus zu verharren; stattdessen im Benennen des Leides, im Erzählen der Geschichte ein wahres Selbst-bewusstsein zu finden. Großartig.

Die Geheimsprache des Blues. Die wahre Bedeutung der Songtexte Robert Cremer
Mit Vorwort von Bobby Rush, Diskografie und über 250 teils farbigen Fotos und Illustrationen, Edition Olms 2022, 868 S., 49,95 €

Marc Ottiker ist ein Schweizer Musiker und Filmemacher. Sein Bandprojekt Mo & kAPELLE spielt Country, Folk und Blues-Songs auf Schweizerdeutsch, Englisch und Deutsch

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