Die Gewalt zieht Kreise

#MeToo Im Fall des Schriftstellers Junot Díaz ist das Opfer der Täter und der Täter das Opfer. Wie soll man damit umgehen?
Ausgabe 20/2018
Fiel als Achtjähriger Vergewaltigungen zum Opfer: Junot Díaz
Fiel als Achtjähriger Vergewaltigungen zum Opfer: Junot Díaz

Foto: Andrew Toth/Getty Images for The New Yorker Festival

Dass uns der letzte #MeToo-Skandal um den Schriftsteller Junot Díaz noch immer nicht losgelassen hat, liegt daran, dass er die Serialität der #MeToo-Fälle unterbricht und einen Wendepunkt in der Diskussion über sexuelle Gewalt darstellt. Díaz, der bekannt wurde für den Erzählband Drown und den Roman The Brief Wondrous Life of Oscar Wao, erschütterte Mitte April mit einem autobiografischen Essay im New Yorker: „The Legacy of Childhood Trauma“ beschreibt die langanhaltenden Folgen der wiederholten Vergewaltigung, der Díaz als Achtjähriger zum Opfer fiel. Mit den Worten „Trauma ist ein Zeitreisender“ kommentiert Díaz die Spuren der Destruktionswut, die dieses Erlebnis bei ihm auslöste: suizidale Autoaggression wie auch solche, die sich gegen Partnerinnen richtete, denen er sich entzog oder die er betrog.

Keinen Monat später das Nachbeben: Die Schriftstellerin Zinzi Clemmons fragt Díaz beim Sydney Writers’ Festival nach dem Essay und bezichtigt ihn, sie als Graduate-Studentin gewaltsam geküsst zu haben. Drei weitere Schriftstellerinnen melden sich und beschreiben Díaz als chauvinistischen Choleriker, der Frauen nicht respektiere und ihre Texte als „Frauenliteratur“ abgetan habe. Letzte Woche trat Díaz als Vorsitzender des Pulitzer-Preis-Komitees zurück.

Die Gewalt zieht Kreise. Die schwierige Frage stellt sich: Wie soll man sie gewichten – die Gewalt, die Díaz erlebt hat, und jene, die er anderen angetan hat? Die bittere Ironie ist, dass die rassistische und sexualisierte Gewalt, die man erfährt, die Kapazität für Empathie oft eher reduziert als steigert. Im Fall Díaz ist das Opfer der Täter, der Täter das Opfer. Das verkompliziert die Sache, zumal der Mann als Opfer sexueller Gewalt immer noch ein Tabu ist. Insofern greift der Vorwurf von Clemmons und Roxane Gay zu kurz, Díaz’ Essay sei ein kalkulierter Schachzug gewesen, um möglichen Anschuldigungen durch die #MeToo-Bewegung zuvorzukommen. In der Tat ist beides möglich: Díaz mag die Gewalt, die ihm angetan wurde, in der Kontroverse für sich ausgenutzt haben, und genauso kann diese Gewalt seine Schuldfähigkeit vermindert haben.

In der Wut von Díaz’ Opfern kommt auch die Enttäuschung darüber zum Ausdruck, dass jemand, der wie Díaz einer racialized Minderheit angehört (dominikanisch-amerikanisch bzw. Latinx), Frauen derselben Minderheit, statt ihnen solidarisch zu begegnen, immer wieder anhand anderer Antagonismen, die sich an der Achse sexueller Differenz orientieren, zum Stillschweigen gebracht hat. Und es wird deutlich, welche Bürde die wenigen Schriftsteller und Schriftstellerinnen of color (und Latinx im Besonderen) zu tragen haben, die es trotz massiver Diskriminierung schaffen, in der Literaturszene Karriere zu machen. Dementsprechend groß war lange Zeit der Druck, Díaz nicht zu unterminieren, sondern zu idealisieren.

Im jetzigen Moment suchen viele retrospektiv nach Spuren von Misogynie in Díaz’ Werk. Indes, die Frage ist nicht, ob seine Charaktere aufgeklärte Ideen vertreten oder nicht; stattdessen bemisst sich der Wert auch seines Schreibens daran, inwieweit es ihm gelingt, affektive Strukturen in all ihrer Intensität und Komplexität zur Darstellung zu bringen – selbst wenn sie unliebsam sind. Díaz’ Stimme ist Produkt einer Geschichte der Gewalt und gibt uns die Möglichkeit, diese Geschichte zu reflektieren.

Barbara Nagel und Daniel Hoffman-Schwartz lehren an der Princeton University. Sie sind dieses Frühjahr an der American Academy in Berlin

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