Warum wir den Kosmopolitismus neu erfinden müssen

Gesellschaft Die „Globalisierung von oben“ mag gescheitert sein. Doch wir sollten wir nicht aufhören, für universale Rechte in einer fragmentierten Welt und einen „Kosmopolitismus von unten“ zu kämpfen. Über eine konkrete Utopie
Ausgabe 37/2022
Da wünscht man sich doch, so manche Lieferkette wäre schon früher implodiert
Da wünscht man sich doch, so manche Lieferkette wäre schon früher implodiert

Foto: Tanya Spasi Sohrani for Bird In Flight (www.birdinflight.com)

Heute über ein Weltbürger*innentum nachzudenken, sei etwas für Optimisten, hört man mitunter. Die Idee kosmopolitischer Politik, die Freiheit, Gerechtigkeit und demokratische Selbstbestimmung für alle beanspruchen würde, könne man sich gegenwärtig ganz offensichtlich abschminken. Mit Blick auf die katastrophalen Folgen des Klimawandels, die Pandemien und nun auch noch das Zusammenbrechen globaler Lieferketten klingt Globalisierung tatsächlich eher nach Krise als nach einem Aufbruch in gerechte weltgesellschaftliche Verhältnisse.

Ganz offenbar genießen kosmopolitische Ideen heute wenig Zuspruch – und doch wird es allein die Verwirklichung weltgesellschaftlicher Verhältnisse sein, die vor einem Rückfall in die Barbarei schützen kann. Das gegenwärtige Wiederaufflammen nationalistischer Bestrebungen, die Zunahme geostrategischer Konflikte und die Schwäche der Vereinten Nationen sind nur die Vorboten eines viel tiefer gehenden Zerstörungsprozesses.

Das wissen letztlich auch diejenigen, die heute gegen kosmopolitische Ideen polemisieren. Es gehört zu den Paradoxien unserer Epoche, dass Wissen und Handeln auseinanderfallen und so ausgerechnet das, was dem Krisengeschehen Einhalt gebieten könnte, in immer weitere Ferne zu rücken droht. Keine der großen Herausforderungen der Gegenwart, weder die Zerstörung der natürlichen Umwelt noch die wachsende soziale Ungleichheit und auch nicht die aufgezwungene millionenfache Flucht von Menschen, wird sich auf nationalstaatlicher Ebene lösen lassen.

Das Zusammenrücken der Welt ist nicht das Problem

Der Geist der Globalisierung ist längst aus der Flasche. Die Hoffnung, ihn in Wohlstandsinseln oder über nationale Abschottung wieder einfangen zu können, ist absurd. Nicht das Zusammenrücken der Welt ist das Problem, sondern der prekäre Zustand, in dem sie sich befindet. Nicht die grenzüberschreitenden Begegnungen von Menschen, die globalen wirtschaftlichen Austauschverhältnisse und die dabei entstandenen wechselseitigen Abhängigkeiten haben die Missstände heraufbeschworen – sondern jene politischen Machtverhältnisse, die mit der globalen Entfesselung des Kapitalismus den Zerfall der Welt in Kauf genommen haben.

Das Resultat von drei Jahrzehnten wirtschaftlicher Globalisierung ist nicht das versprochene „global village“, sondern sind tiefe soziale Gräben. Auf der einen Seite stehen die Profiteure des Marktradikalismus: Menschen, die relative Privilegien und weltweite Freizügigkeit genießen; auf der anderen dessen Opfer: Menschen, die ihrer Lebensgrundlagen beraubt wurden und auf der Suche nach neuen Existenzmöglichkeiten von kaum noch überwindbaren Grenzen blockiert werden. Wie absurd die Verhältnisse sind, zeigt sich mitunter an den Stränden des Mittelmeers, wenn Flüchtende, die Gefahren für Leib und Leben auf sich nehmen, auf Touristen treffen, die bereits klagen, wenn sie längere Wartezeiten an Flughäfen in Kauf nehmen müssen.

Zweierlei Kosmopolitismus

Die Kritiker des Kosmopolitismus verkennen, dass die Gegenwart längst vielfältige kosmopolitische Züge aufweist. Allerdings ist es ein zutiefst gespaltener Kosmopolitismus, der uns heute begegnet. Einem elitären Kosmopolitismus, der sich auf wirtschaftliche und kulturelle Dominanz gründet und eine „Globalisierung von oben“ vorantreibt, steht ein prekärer Kosmopolitismus gegenüber, eine „Globalisierung von unten“, die in der weltweiten Migration von Menschen, aber auch in der globalen Vernetzung von sozialen Bewegungen und Menschenrechtsaktivist*innen zum Ausdruck kommt.

Bemerkenswert ist das ungleiche Verhältnis, das die beiden Kosmopolitismen zum Staat haben. Während es der elitäre Kosmopolitismus vermocht hat, eine transnationale ökonomische Macht jenseits nationalstaatlicher Regulierung zu begründen und mit privaten Schiedsgerichten inzwischen eine eigene Gerichtsbarkeit unterhält, sieht sich der prekäre Kosmopolitismus vielfältigen staatlichen Repressionen ausgesetzt. Rigide Grenzregime korrespondieren mit enger werdenden demokratischen Räumen. Es ist beschämend zu sehen, wie viel politische Energie in den zurückliegenden Jahrzehnten investiert wurde, um die Freiheit der Vermögenden zu sichern, nicht aber die Freiheit der sozial Marginalisierten. Mehr noch: Überzeugt davon, dass Marktliberalismus und Demokratie gleichzusetzen seien, schreckte der elitäre Kosmopolitismus nicht davor zurück, das eigene Gesellschaftsmodell in alle Welt zu exportieren. Mit weltweit tätigen Unternehmensberatungen, knebelnden Handelsabkommen und immer wieder auch mit militärischen Mitteln.

Die Globalisierung von oben ist gescheitert. Wenn aus dem „Weltweit-Werden der Welt“, das Jacques Derrida gefordert hat, noch etwas werden soll, dann bedarf es einer radikal anderen Politik. Krisen, darauf hat schon Albert Einstein hingewiesen, lassen sich niemals mit demselben Denken bewältigen, das sie verursacht hat. Solange Wachstums- und Wettbewerbsorientierung, deregulierte Märkte und technologische Fortschrittsparadigmen als quasi naturwüchsige, unveränderbare Grundlagen jeder Vergesellschaftung gelten, wird die Zerstörung der Welt anhalten. Nicht die Globalisierung einer auf Vormacht und Privilegien bedachten Politik ist gefragt, sondern eine globalisierte Politik, getragen von weltweit geteilten Werten und Rechten. Ein nicht-hegemonialer Kosmopolitismus von unten tut not, der bei der Verteidigung gesellschaftlicher Vielfalt immer auch auf das Verbindende bedacht ist. So notwendig moralische Entrüstung ist, mit Empörung alleine wird es nicht gelingen, die sozial-ökologische Zerstörung aufzuhalten. Um Veränderungen durchsetzen zu können, bedarf es auch einer Idee davon, wie das Andere, wie eine die Menschenwürde aller respektierende globale Gesellschaftlichkeit aussehen könnte.

DiskussionenVom 1. bis 3. Oktober findet in Frankfurt am Main ein Symposium statt, auf dem die im Text angesprochenen Themen diskutiert und vertieft werden sollen. Wie könnte ein demokratischer Kosmopolitismus aussehen? Wo wird er, oft jenseits der Wahrnehmung einer breiten Öffentlichkeit, bereits praktisch gelebt? Diesen Fragen ist die dreitägige Veranstaltung unter dem Titel „Kosmopolitismus von unten – Annäherungen an globale Demokratie” gewidmet. Zur Eröffnung in der Paulskirche spricht die in den USA lebende Politikwissenschaftlerin Seyla Benhabib über die „Konterrevolution gegen den Kosmopolitismus in unserer Zeit”. An den folgenden Tagen debattieren Teilnehmende aus Wissenschaft und Praxis über philosophische oder rechtliche Aspekte sowie praktische Beispiele einer Demokratisierung über nationale
Grenzen hinweg.

Zugesagt haben Forschende wie Regina Kreide, Ina Kerner, Daniel Loick, Ulrich Brand und der Direktor des Instituts für Sozialforschung, Stephan Lessenich. Aus der politischen Praxis berichtet unter anderem Alberto Acosta, der ehemalige Präsident der verfassunggebenden Versammlung in Ecuador. Auch Thomas Gebauer steht auf der Rednerliste. Ergänzt werden die Diskussionen durch einen Abend zum Thema Menschenrechte unter dem Titel „Der universelle Kompass”, den das Ensemble Modern und das Orchester „Bridges – Musik verbindet” gemeinsam mit dem Schriftsteller Ilija Trojanow gestalten. Das Symposium bildet den Auftakt zu einer „Globalen Versammlung”, die 2023/24 Menschen aus aller Welt zusammenführt, um über Visionen und Chancen transnationaler Demokratie zu diskutieren. Der erste Teil der „Global Assembly” findet im Mai 2023 in Frankfurt statt, wenn sich der Beginn der Nationalversammlung in der Paulskirche zum 175. Mal jährt.

Der Freitag wird die Initiative in den kommenden eineinhalb Jahren regelmäßig begleiten. Das Symposium ist für alle Interessierten offen. Anmeldung unter www.stiftung-medico.de/sym-posium. Dort findet sich auch das vollständige Programm. SH

Eine herausragende Rolle spielt dabei ohne Frage die Verrechtlichung der globalen Verhältnisse, namentlich die Menschenrechte, die über völkerrechtlich bindende Pakte und spezielle Konventionen immer weiter fundiert wurden, aber zuletzt auch immer mehr Missachtung erfahren haben. Umstritten sind jedoch nicht nur ihr Geltungsbereich und die institutionellen Voraussetzungen ihrer Verwirklichung, sondern auch ihre eurozentristische Prägung. Nicht wenige im Globalen Süden betrachten die Menschenrechte als Fortsetzung des Kolonialismus mit anderen Mitteln. Es ist gut, dass mittlerweile in Politik und Wissenschaft über eine Weiterentwicklung nachgedacht wird.

Zu klären ist unter anderem die Rolle des Rechts auf Eigentum im Verhältnis zum Gemeinwohl. Berechtigt der Schutz des Privateigentums auch zur Kapitalakkumulation und damit zur Ausbeutung anderer? Gibt es ein Recht auf Profit, das alle anderen Rechte überstrahlt, etwa dann, wenn unternehmerisches Handeln nur gegen Entschädigung ausgefallener Gewinne reguliert werden darf, selbst wenn es die Gesundheit der Menschen gefährdet?

Auch ist der Anthropozentrismus der Menschenrechte zu problematisieren und über ein neues gesellschaftliches Naturverhältnis nachzudenken, das Menschen nicht als gesondert von ihrer natürlichen Umwelt begreift, sondern als deren Teil. Müssen deshalb nicht auch der Natur Rechte eingeräumt werden, wie es etwa in der Verfassung Ecuadors heute der Fall ist?

Und, nicht zuletzt: Sind es allein die Nationalstaaten, denen die Pflicht für die Verwirklichung der Menschenrechte obliegt, oder auch private Akteure? Wie greifen öffentliche und private Verantwortung ineinander? Welches globale Recht und welche transnationalen Institutionen sind notwendig? Dass die Setzung globaler Normen heute selbst jenseits formeller Staatlichkeit gelingen kann, dafür hat die Open Source Community mit Regeln, die über alle Grenzen hinweg Beachtung finden, erste Hinweise geliefert. Auch die kürzlich in Zürich eingeführte Züri City Card, die auf kommunaler Ebene allen Menschen ungeachtet ihrer nationalstaatlichen Zugehörigkeit das Recht, Rechte zu haben, einräumt, weist in diese Richtung.

Pluralität, nicht Weltregierung

Schauen wir genauer hin, entdecken wir längst eine Vielzahl von Ansätzen, die auf einen neuen Kosmopolitismus von unten drängen und dabei keineswegs die Schaffung eines Weltstaates und schon gar nicht die Inthronisierung einer Weltregierung im Auge haben, sondern die Pluralität der Lebenswelten mit der Universalität grundlegender Werte in Einklang bringen wollen.

Es ist ein ambitioniertes Projekt, das damit skizziert ist, eines, das durchaus utopische Züge trägt. Aber es ist eine konkrete Utopie, deren Verwirklichung nicht am Mangel an Ressourcen oder organisatorischen Voraussetzungen scheitert, sondern allein an der fehlenden Bereitschaft in Politik und Öffentlichkeit.

Nächstes Jahr feiert die Welt den 75. Jahrestag der Menschenrechtserklärung. Zeitgleich begeht Deutschland das 175-jährige Jubiläum der ersten Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. Ging es im 19. Jahrhundert darum, die deutsche und europäische Kleinstaaterei zu überwinden und universelle Freiheitsrechte zu erklären, ist heute die Überwindung nationalstaatlicher Einengungen gefordert, mithin der kosmopolitische Anspruch auf eine globale Politik, die Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie für alle zum Ziel hat.

Thomas Gebauer war von 1996 bis 2018 Geschäftsführer von medico international

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