Vergreisung“, „demografischer Kollaps“, „Rentnerrepublik“: Deutschland altert und das Repertoire an Krisenbegriffen ist groß. Die Aussicht auf eine ergrauende Gesellschaft wird seit geraumer Zeit zu einem apokalyptischen Krisenszenario verdichtet, das es ohne Weiteres mit Klimawandel oder Finanzkrise aufnehmen kann. Beschworen werden die Implosion der sozialen Sicherungssysteme, ökonomischer Niedergang und Generationenkonflikte. „Aufstand der Jungen“ – auch ein öffentlich-rechtliches Doku-Drama ließ dieser Tage keine Untergangsparole aus.
Nach Belegen für derartige Visionen sucht die Wissenschaft einstweilen allerdings vergeblich. Der Alarmismus beruht vor allem auf negativen Stereotypen, die es uns selbstverständlich erscheinen lassen, dass eine ältere Gesellschaft „schlechter“, problematischer ist als eine im Durchschnitt jüngere – und nicht nur anders.
Auf der Suche nach Auswegen aus der prognostizierten demografischen Katastrophe werden neuerdings jedoch ausgerechnet die Alten selbst als Teil der Problemlösung entdeckt. Gesund, gebildet und finanzstark scheinen sie bestens geeignet, ihre der Gesellschaft aufgebürdete „Alterslast“ durch juveniles, aktives Altern wettzumachen. Agile 65-Jährige, die von der Seniorenuni zur Herzgruppe sausen, ihren Enkeln die Kita ersetzen und in der verbleibenden Zeit ihr berufliches Know-how ehrenamtlich zur Verfügung stellen, begleiten uns durch Feuilleton, Funk und Fernsehen. Sie lächeln lebensfroh – und zumeist recht faltenfrei – als Werbeträger des Bundesseniorenministeriums und der Kosmetikindustrie von Plakatwänden herab.
„Zähl Taten statt Falten“ lautete schon 2009 der Titel einer vom Seniorenministerium vorgestellten Kampagne. Die Botschaft: Sofa und Fernsehen, Kukident und Dauerwelle waren einmal – die Alten von heute sind jung, gesund und fit, sie bringen sich ein und machen mit. Grau wird silber, das vermeintliche Problem zur Ressource, das Alte(r) neu.
Was ist von dieser Entwicklung zu halten? Gegen die Würdigung der Potenziale älterer Menschen ist nichts einzuwenden. Bei genauerem Hinsehen zeigen sich jedoch die Schattenseiten der neuen Altersaktivierung: Was als „Win-win-Strategie“ propagiert wird, die allen zu Gute kommt – den nach Teilhabe strebenden Älteren und der auf deren Ressourcen angewiesenen Allgemeinheit –, entpuppt sich als weiterer Schritt zur produktivistischen Mobilmachung der Gesellschaft. Nicht nur durch die gesetzlich verlängerte Lebensarbeitszeit ist der „wohlverdiente Ruhestand“ zu einer veralteten Vorstellung geworden. Auch nach dem möglichst späten Ausscheiden aus dem Erwerbsleben wird von den Alten umfassende Bereitschaft zum Engagement eingefordert: im Ehrenamt, in der Pflege, zum Erhalt eigener Leistungsfähigkeit.
Vision der Leistungserbringer
2005 gab der Fünfte Altenbericht der Bundesregierung zum Thema „Potenziale des Alters“ die Stoßrichtung für diese politische Neubestimmung der Altersphase vor. Eher unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit, in der die „Rente mit 67“ das altenpolitische Feld beherrscht, beginnt sich das produktivistische Altersleitbild in Modellprojekten und Anreizprogrammen umzusetzen. Das fügt sich ein in den aus anderen Bereichen bekannten sozialpolitischen Trend, zu fordern ohne zu fördern: Hier wird auf Eigenverantwortung und Indienstnahme der Älteren gesetzt, während gleichzeitig bis dato gewährleistete soziale Sicherheiten reduziert werden, Initiativen gegen Altersdiskriminierung weiter in den Kinderschuhen stecken und es an altersgerechten Arbeitsplätzen fehlt. Die aktuelle gesellschaftliche Neuverhandlung des Alters zielt also gerade nicht auf die Würdigung des Alters in all seinen Facetten, sondern ganz konkret auf die Positivvision von „jung gebliebenen“ Leistungserbringern in höheren Lebensjahren.
Von einer wirklichen Überwindung altersfeindlicher Bilder kann daher hierzulande bislang nicht die Rede sein: Nur wer sich noch aktiv einzubringen vermag, dem wird auch soziale Anerkennung zuteil. Von Pflegebedürftigen und Dementen ist in diesem Zusammenhang nie die Rede – sie begegnen uns weiterhin lediglich als „Passiva“ des Gesellschaftshaushalts, als zu Betreuende und zu Versorgende.
Der aktuelle Sechste Altenbericht der Bundesregierung zum Thema „Altersbilder in der Gesellschaft“ hätte die Chance eröffnet, dieser wissenschaftlich wie politisch gerahmten Neubestimmung des Alters die notwendige Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. Allein: Der von einer vierzehnköpfigen, hochkarätig besetzten Expertenkommission erstellte Bericht wurde medial mit konzertierter Nichtbeachtung gestraft. Es mag auf den ersten Blick Spannenderes als Regierungsberichte geben und viele Journalisten dürften (leider) Ähnliches über das Thema Alter denken. Zu Unrecht, denn ein Blick in die Expertise wäre aus drei Gründen geboten: Es geht nicht nur um die politisch einflussreiche Fortschreibung der Neuverhandlung einer Lebensphase, die für die meisten Menschen fast ein Drittel ihres Lebens umfasst. Es geht auch um einen durchaus skandalösen Berichtsauftrag der Regierung und um ein Gutachten, das auf traurige Weise demonstriert, wie wissenschaftliche Expertise ins Leere läuft, wenn sie von ihrem politischen Kontext abstrahiert.
Die Kommission erwartete kein leichtes Unterfangen, als sie ihre Arbeit aufnahm, hatte die Bundesregierung die gewünschte Stoßrichtung doch bereits vorgegeben: Angefragt wurde ein Leitbild vom Alter, „das die Fähigkeiten und Stärken älterer Menschen betont und dazu beiträgt, dass diese ihren Beitrag in Wirtschaft und Gesellschaft leisten“, ein positives Leitbild also, das die Nutzung der Potenziale Älterer voranbringt. Dass negative Stereotypen allein aufgrund ihres diskriminierenden Charakters zu problematisieren sind und dass rechtliche wie politische Initiativen zu Altersdiskriminierung in Deutschland weit hinter denen anderer Ländern zurückbleiben – davon ist im Berichtsauftrag nichts zu lesen. Und obwohl den Sachverständigenbericht ein je nach Autorenschaft der Einzelkapitel unterschiedlich starkes Unbehagen ob dieses allein ressourcenorientierten politischen Ansinnens durchzieht, bleibt eine ausdrückliche Kritik an der Engführung des Auftrags aus.
Erstaunliche Naivität
Stattdessen ist der Bericht geprägt von erstaunlicher Naivität ob der politischen Rahmenbedingungen der Altersaktivierung. Diese werden schlicht ignoriert: Der Staat habe die Verpflichtung, so die Kommission, vor allem diejenigen zu fördern, denen es an ökonomischen und sozialen Ressourcen mangele. So begrüßenswert diese Perspektive ist, so naheliegend die Frage: Welcher Staat soll das sein? Der real existierende wohl kaum. Den Sachverständigen müsste eigentlich bekannt sein, dass die amtierende Bundesregierung – wie auch schon ihre Vorgängerinnen – genau das Gegenteil tut, indem sie fleißig „von unten nach oben“ umverteilt und den durch diverse Rentenreformen langfristig programmierten Anstieg der Altersarmut, etwa mittels einer neuerlichen Schlechterstellung von Menschen im ALG-II-Bezug, weiter befeuert. Und auch wenn die Kommission davor warnt, dass das bürgerschaftliche Engagement Älterer instrumentalisiert werden könnte, um auf diesem Wege rückläufige Leistungen des Staates zu kompensieren, übersieht sie geflissentlich, dass eben dies längst geschieht und die befürchtete „Instrumentalisierung“ gerade der Anlass für den Berichtsauftrag gewesen ist. Von einer dezidierten Kritik dieser Politik findet sich im Altenbericht jedoch keine Spur – und so zeigte sich Ministerin Kristina Schröder anlässlich der Veröffentlichung denn auch hochzufrieden.
Immer wieder wird betont, dass ältere Menschen ihre Potenziale einbringen wollen und in hohem Maße einsatzbereit seien. Angesichts dessen fragt man sich erstaunt, warum zugleich die moralische Verpflichtung der Älteren, sich zum Wohle Aller zu engagieren, nachgerade beschworen werden muss. So wird eine „selbst- und mitverantwortliche Lebensführung im Alter“ von der Altenberichtskommission sogar als normative Anforderung propagiert: „Das für jeden älter werdenden Menschen bestehende Recht, Potenziale zu entwickeln und zu verwirklichen, korrespondiert auch für jeden einzelnen Menschen – im Rahmen der jeweils bestehenden Möglichkeiten – mit Pflichten, nicht nur gegenüber der eigenen Person, sondern auch gegenüber der Gesellschaft.“ Fehlt es etwa doch an der unterstellten Eigeninitiative der „jungen Alten“? Liegen die angeblich so willigen Nutzenvollstrecker womöglich träge im Strandkorb, wandern sie selbstgenügsam über den Jakobsweg oder sortieren in aller Ruhe zu Hause Fotos, an denen kein gesellschaftlicher Bedarf angemeldet wurde?
Statt der naheliegenden Frage nachzugehen, ob sich die angerufenen Älteren ihre gesellschaftliche Teilhabe möglicherweise ganz anders vorstellen als die alterspolitischen Spindoktoren, wird von Experten wie Politiker fleißig Verpflichtungsrhetorik produziert. Die „neuen Alten“ interessieren die alternde Gesellschaft nur, soweit und solange sie ihr etwas zu bieten haben. Das sollten sie sich nicht bieten lassen.
Dr. Silke van Dyk, 38, arbeitet am Institut für Soziologie der Universität Jena. Prof. Stephan Lessenich, 45, ist dort derzeit Dekan der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften. Beide haben 2009 Die jungen Alten. Analysen einer neuen Sozialfigur im Campus-Verlag herausgegeben
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