Die guten alten 2010er Jahre

Zukunftsnostalgie 1 Niemand weiß, wie das Leben 2050 aussehen wird. Aber ein ist sicher: Alle werden voller Sehnsucht zurückblicken – auf die viel besseren Zeiten am Anfang des Jahrtausends
Die guten alten 2010er Jahre

Illustration: Eva Hillreiner

Die Menschen nahmen 2012 noch an, sie würden durch private Vorsorge eine Rente beziehen, von der sie leben können. Das machte ihnen ein gutes Gefühl. Gnihihi.

Es gab schöne Pflegeheime in Tschechien oder Polen. Heute sind die ja nicht mehr bezahlbar.

Die Innenstädte wurden von Menschen bewohnt, die keine eigene Wohnung besaßen, sondern nur mieteten. Von richtigen Menschen, also solchen, die mit den Händen arbeiteten. In den Innenstädten!

Straßen wurden nicht von Kameras überwacht. Obwohl. Nein, vergessen wir den Punkt. Besser: Nicht alle Straßen wurden von Kameras überwacht.

Kein Passant wurde auf dem Gehweg von Hoverboardfahrern belästigt. Dieses Rowdytum auf den Straßen wird wirklich immer schlimmer.

Wir spielten damals noch „World of Warcraft“ und „Grand Theft Auto“. Heute verroht die Jugend ja zunehmend.

Man zahlte in München kaum 800 oder 900 Euro, schon kriegte man die Kinderbetreuung in einer Krippe für vier Stunden pro Tag einigermaßen organisiert.

Die Mehrzahl der Menschen ging tagtäglich von früh bis abends an einen Ort namens Büro, wo sie ihrer Erwerbsarbeit nachgingen. Angeblich durfte dort sogar Kaffee gekocht werden, in sogenannten Pausen.

Eine gewisse Kristina Schröder brachte ihr Kind im Säuglingsalter mal mit zur Arbeit und musste keine Angst vor einer Klage des Kinderschutzbundes haben.

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Es gab noch keine Flexiquote für Männer in Führungspositionen. Keine Ahnung, wie sich die Jungs damals eigentlich durchsetzen konnten.

Feministinnen hatten plötzlich Spaß, Feministen wollten und durften mitlachen.

Man konnte sich noch als Super-Vater fühlen, wenn man abends nach dem Büro mit seinem Kind eine halbe Stunde Eisenbahn spielte und am Sonntag ein Eis ausgab.

(Manche) ältere Menschen konnte man noch an grauen Haaren erkennen.

Wenn ein Obdachloser um ein paar Münzen bat, konnte man ihm die Bitte erfüllen, da man noch mit Bargeld in den Taschen unterwegs war.

Depressionen oder Burnouts waren noch nicht so weit verbreitet, dass es einen Therapeutenmangel gab.

Abschied war noch ein bisschen wie sterben – im Flugzeug zumindest mussten die Handys ausgeschaltet bleiben.

Man las massenweise Zeitschriften wie Landlust und träumte vom idyllischen Landleben ohne Lärm und Schmutz, bevor das Land zur Geisterregion mit nur sporadisch verkehrenden Bussen und Zügen wurde, ein Refugium der Superreichen, die sich das Benzin, die Maut und damit die Mobilität leisten konnten.

Rosies und Uschis und andere liebevolle Servicekräfte hatten beim Frischgezapften immer ein Ohr für die bierseligen Sorgen ihrer Stammgäste.

In privaten Räumen war das Rauchen erlaubt.

In privaten Räumen war der Genuss alkoholischer Getränke erlaubt.

Es gab Obst, das nicht in Plastik eingeschweißt war. Nicht viel zwar, aber wenn man nur acht oder neun Läden besuchte, fand man welches.

Immer mehr Menschen aßen keinetoten Tiere (also echte Tiere!) , weil sie nicht mehr daran glaubten dies sei wichtig für die Gesundheit.

Höherklassige Autos hatten lediglich eine automatische Einparkfunktion und keine Vollfahrautomatik, wie wir Öko-Autofreunde sie heute hassen.

http://imageshack.us/a/img138/7048/illu1200px.jpgDie Züge waren noch pünktlich. ( Jedenfalls zeigte die Pünktlichkeitsanzeige der Bahn immer 99 Prozent an.)

Mit dem Handy konnte man im Jahr 2012 bereits ganz schön viel: telefonieren, surfen, mailen, fotografieren. Anders als in unserer von Geräten losgelösten Allzeitvernetzung konnte man es aber auch mal ausmachen oder, noch besser, zu Hause vergessen. Das war schon damals ein ziemlicher Nervenkitzel, aber auch ein Akt des zivilen Ungehorsams.

Die Produkte hielten 2012 einfach noch länger als heute.

Es gab noch Bedienungsanleitungen, auf Papier und virtuell: Schwer zu kapieren, aber existent.

Statt im Internet einzukaufen, ließ man sich von Laden zu Laden durch die Shopping-Mall treiben.

Die Menschen rasierten sich im Gesicht, an den Beinen, im Schambereich und überhaupt überall selbst – ein schönes Ritual der Körperpflege, das noch möglich war, weil nicht jeglicher Haarwuchs von Hormonpräparaten gestoppt worden war.

CSDs haben tatsächlich auf offener Straße stattgefunden, nicht in von Security überwachten Stadien und Arenen.

„Transparenz“ war noch kein eingetragener Markenname.

Schwierige politische Fragen delegierte man damals an Repräsentanten, Bundestagsabgeordnete genannt. So musste man nicht dauernd mit der Liquid-Democracy-Software bei allem mitdiskutieren. Kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen, wie entspannt Demokratie damals funktionierte.

Die meisten Studenten machten ihren Abschluss noch nicht mit 17. Außerdem waren sie viel, viel politischer als heute und das Studium noch nicht so schrecklich verschult.

Bundeskanzler Hans Sarpei war damals, ehrlich gesagt, ganz schön witzig.

Apropos: Man kann keine Witze über jemanden machen, dessen Schrift man nicht lesen kann. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren insofern damals die angenehmeren Weltherrscher als die Chinesen.

Chinesische Wanderarbeiter bewegten sich damals innerhalb ihrer Landesgrenzen, ganz im Gegensatz zu den chinesischen Wanderrobotern, die mittlerweile die Schweiz erreicht haben.

Sammlung: Sophia Hoffmann, Anna Fastabend. Susanne Lang, Maxi Leinkauf, Jan Pfaff, Klaus Raab, Mark Stöhr

Illustration: Eva Hillreiner

Sammlung: Sophia Hoffmann, Anna Fastabend. Susanne Lang, Maxi Leinkauf, Jan Pfaff, Klaus Raab, Mark Stöhr

Illustration: Eva Hillreiner

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