Die jüngsten Defizitmeldungen der Krankenkassen haben das Missverhältnis zwischen Einnahmen und Ausgaben erneut bewusst gemacht. 860 Mio. Euro fehlten den Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) allein im ersten Quartal. Wenn die Leistungen nicht gekürzt werden sollen, müssen entweder die Beiträge noch weiter steigen - oder Menschen in die Versicherung einbezogen werden, die statistisch mehr Beiträge zahlen als sie Geld kosten. Weil die Gesetzlichen Krankenversicherungen sich nicht nach dem individuellen Krankheitsrisiko bezahlen lassen, sondern einen prozentualen Anteil vom Arbeitseinkommen nehmen, sind das die Besserverdienenden. Wer im Monat zur Zeit mehr als 3375 Euro verdient, kann aus der GKV aussteigen und sich privat versichern. Ist er oder sie gesund
und (oder hat Krankheiten noch nicht entdeckt), kostet es bei einer Privaten dann möglicherweise weniger. Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) plant, diese Versicherungspflichtgrenze zu erhöhen - voraussichtlich auf 4500 Euro. Ein opportunes Mittel, den Gesetzlichen höhere Einnahmen zu verschaffen - und nicht gerade unsozial. Auch wenn ein Minus auf dem Konto unangenehm ist: Wer in dieser Gehaltsliga spielt, kann es sich regelmäßig leisten, sich gesetzlich kranken zu versichern. Zumal die Familienmitglieder, die nicht selbst verdienen, kostenfrei mitversichert sind. In einer groß angelegten Werbeaktion treten die Privaten Krankenversicherungen (PKV) gegen die geplante Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze auf. Sie drohen in erster Linie nicht mit den individuellen Beitragserhöhungen - sondern reklamieren "Wahlfreiheit im Gesundheitswesen" für sich. Richtig ist: Wird die Versicherungspflichtgrenze erhöht, müssen sich mehr Menschen gesetzlich versichern. Der von den PKV angeprangerte Zwang ist fester Bestandteil eines jeden Solidarsystems: Wenn die "guten Risiken" ausscheren können, bricht die Finanzierungsgrundlage für alle zusammen. Ein funktionierendes Gesundheitssystem aber nützt allen, der Zwang beruht also auf gutem Grund. Eine individuelle Kosten-Nutzen-Analyse mag beim Blick ins Portemonnaie nahe liegen, ist gesellschaftlich aber fehl am Platze. Aber selbst individuell betrachtet ist die Werbeaktion der Privaten Ausdruck verlogener Rosinenpickerei: Wer gewisse Krankheitsrisiken mitbringt, wird nur mit Zuschlag versichert. Raucher? Kostet extra. Brillenträgerin? Kostet extra. Wie die Metalliclackierung beim Autohändler. Nur dass eine Brille mit sieben Dioptrin kein Luxusgut ist. Und wehe, jemand leider an einem frühkindlichen Trauma und bedarf einer auch nur mittelfristigen Psychotherapie - es könnte passieren, dass er gar nicht erst versichert wird. Oder auf den Therapiekosten sitzen bleibt. Diagnose: Leistungsausschluss. Die von den Privaten propagierte Wahlfreiheit ist somit ihre eigene, nicht die des Versicherten. Das System der PKV mag betriebswirtschaftlich nachvollziehbar sein, es ist aber ohne Abstriche unsozial - Krankheit wird zum individuellen Risiko. Und langfristig verschärft die Option des Wechsels in die Private Krankenversicherung die Situation noch: Wer unterhalb der Versicherungspflichtgrenze verdient oder ein "Risikopatient" ist, bleibt in der GKV, wer viel verdient und gesund ist, wechselt zu den Privaten. Die Folge: Die Risikostruktur der Gesetzlichen wird schlechter. Mehr als 100.000 Versicherte sind allein im ersten Quartal 2002 von den Allgemeinen Ortskrankenkassen zu den Privaten gegangen. Die Versicherungspflichtgrenze anzuheben, würde vielen nützen und wenige belasten, die es sich zudem eher leisten können. Es wäre gut, wenn Rot-Grün bei dem Vorhaben bliebe. Die Koalition hat sich mit der Riester-Rente auf sozialpolitischen Gebiet allerdings das Leben selbst schwer gemacht hat: Der Einstieg in die kapitalgedeckte Altersvorsorge dient den PKV als Kronzeuge. Warum sollte, was in der Rentenversicherung möglich ist, nicht auch in der Krankenversicherung gangbar sein? Die falsche rentenpolitische Weichenstellung kommt damit gesundheitspolitisch als Bumerang zurück. Dabei wäre eine "Privatisierung" der Krankenversicherung noch fataler: Bei der Altervorsorge mag man noch darüber reden können, ob ein kleiner Teil der finanziellen Sicherung auf dem Kapitalmarkt riskiert werden kann. Im Gesundheitsbereich ist diese Überlegung vollkommen inakzeptabel. "Friedensgrenze" wird die Versicherungspflichtgrenze bisweilen genannt. Soziale Gesundheitspolitik muss wohl ein wenig kurzfristigen Unfrieden in Kauf nehmen, um die langfristige Stabilität zu sichern.