Die Hände meines Vaters

Kehrseite III Sind großflächig. Sie beginnen sechsuhrfrüh und finden keinen Feierabend. Die Finger sind dick und die Haut ist hartgewachsen von jederart Plackerei. ...

Sind großflächig. Sie beginnen sechsuhrfrüh und finden keinen Feierabend. Die Finger sind dick und die Haut ist hartgewachsen von jederart Plackerei. In den Innenflächen rau wie Sandpapier. Unter den dickgerillten Nägeln sind Farbfetzen festgesetzt und Dunkles: Dreck von Böden, Fenstern, Brettern. Durch die Furchen fließt der Geruch von Öl und Benzin. Mein Vater kann alles, er sagt: geht nicht, gibt´s nicht, und das ist gut zu wissen, denn was mein Vater sagt, stimmt. Mein Vater hat mir gezeigt, wie man Schneemänner baut und wie man auf Bäume klettert. Mein Vater hat mir Fußball gelernt und das Schwimmen. Er sagt, ich sei immer getaucht und wäre trotzdem die Erste gewesen in meiner Klasse mit einem Seepferd. Mein Vater hat mir lesen gelernt und das Schreiben. Nach der Schule haben wir geübt: Bögen auf Zetteln, gerade Striche, nicht über die Linien, nicht über den Rand. Ich bekam Bienchen und mein Vater sagt, ich sei schon immer die Beste gewesen. In den Sommerferien war ich bei den Großeltern und vermisste die warmen Semmeln, die mein Vater von der Nachtschicht mitbrachte und freute mich auf die nächste Klasse. In der nächsten Klasse sammelten wir, was von den Bäumen fiel und bastelten Streichholzfiguren aus Kastanien und Eicheln. Das taten wir in jeder nächsten Klasse. Einmal hatte ich einen Freund, da sagte mein Vater, der solle ihm bloß unter die Augen kommen, dann flöge er übers Balkongeländer.

Die Hände meines Vaters schrumpfen mit jedem Sommerwinterwechsel, es ist Oktober und ich halte inne vor jeder Kastanie, blicke zur Baumkrone hinauf und freue mich über die Himmelfetzen zwischen dem dichten Grün. Aber ich mag die Blätter, besonders als Laub, ich mag die Rottöne. Meine Augen wandern den Boden ab, ich beuge mich nach vorn und hebe eine besonders schöne, braune Kastanie auf. Ich drücke meinen Daumen das glänzende Glatt entlang, der Bastelkram im obersten Fach des Kellerregals trägt sicher Schichten von Staub. Bäume verzögern das Vorankommen in meinen Tagen. Ich wünsche den Sommer herbei und mich in die Kleinstadt zurück, ich wünsche das lange geschlossene Freibad wiedereröffnet und Bögen auf Zetteln, gerade Striche, nicht über die Linien, nicht über den Rand. Jeden Morgen Müsli, ich wünsche mir die warmen Semmeln, sie fehlen mir einfach, im Sommer, im Winter, ein immergleiches Sehnen, in den Zwischenzeiten das Warten auf ein endgültiges Wetter. Ich rauche verbotene Zigaretten und trage die Herbstfrüchte in Manteltaschen spazieren, drücke sie im Dunkel in meine Faust, während die Tage zu Ende gehen, immer früher, sagen die Uhren. Diese Dunkelheit macht mir Angst, ich drücke meinen Bauch, streiche ihn, wie eine große, glatte Kastanie und wünsche, dass die großen Hände meines Vaters darauf ruhen. Am Abend lege ich mich auf meine Seite des Bettes und plane, ihn zu besuchen. Er wird mir einen Teddybären schenken, den hat er gesehen beim Wochenendeinkauf und an mich gedacht. An Schneetagen suche ich nach dem Schlitten von früher, der war noch nie hier, was soll ich damit in der Stadt. Ich finde im ansonsten glatten Weiß viele winzige viergliedrige Spuren von Vögeln, die auf meinem Fenstersims spazieren gehen oder aber ihr Haus suchen.

Katrin Merten, 24, lebt, studiert und schreibt in Leipzig Lyrik Kurzprosa.


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