In den Reihen sitzen Leipziger, sitzen Gerippe, sitzen Tiergestalten. Der Vorhang rauscht auf, und auf der Bühne zeigt sich: der Zuschauer. Allein. Klingt wie ein Alptraum, ist aber die durchaus reizvolle Installation Who’s there des Performancekollektivs Monster Truck. In der Umkehrung wird der Besucher zum Akteur, bis er sich zu den anderen setzen und dem nächsten beim Schauen zuschauen kann. Dieser sympathische Start in die neue Saison am Schauspiel Leipzig steht symbolisch für Perspektivwechsel und Neugier.
Mit sechs Premieren an drei Tagen in vier Spielstätten hat sich der neue Intendant Enrico Lübbe vorgestellt – alle ausverkauft. Neben der Performance in der Residenz, draußen auf dem Spinnereigelände, gab es eine Leipziger Erstauffü
iger Erstaufführung, zwei Uraufführungen und zwei Schulstoff-Klassiker zu sehen. Zu hören waren die Sprache vergangener Jahrhunderte, Diskursfloskeln der Gegenwart und ein überzeugend in Szene gesetzter lyrischer Text. Dass keine der freundlich aufgenommenen Aufführungen länger als ein Tatort dauerte, kann man sportlich nennen, wobei das Eindampfen nicht in jedem Fall eine Verdichtung war.Alles irgendwie schönLübbe will jenes Versprechen der „Vielfalt“ einlösen, das er für sein Stadttheater gegeben hat. Ein Anspruch, der vermisst, eingefordert, aber auch belächelt wurde nach den fünf Jahren seines Vorgängers Sebastian Hartmann, der polarisiert hat mit Experimenten, Textzertrümmerung, oft behaupteter Erneuerung. Zum Schluss zog Hermann Nitsch mit seinem Orgien-Mysterien-Theater eine Blutspur durchs Haus.Nun ist vieles irgendwie schön, hübsch anzuschauen, der Saal ein Wohlfühlraum. Das lässt auch gleichgültig zurück. „Gleichgültig ist die Seele nur gegen das, woran sie nicht denkt, nur gegen ein Ding, das für sie kein Ding ist“, sagt Gräfin Orsina in Emilia Galotti. Mit Lessings Trauerspiel präsentierte sich Intendant Lübbe selbst im Großen Haus, das ab jetzt vor allem Klassikern vorbehalten bleiben soll. Nach knapp 80 Minuten ist alles gesagt über Begehren und Ränkespiele, aber eben nur gesagt. Nicht alle Schauspieler, die meisten sind neu in Leipzig, bekommen Gelegenheit, aus glaubhaft agierenden Figuren heraus zu berühren, Konflikte nicht nur anzudeuten.Text beim Wort nehmenLübbe entscheidet sich für Text und Visualisierung. Beim Kreisen der von gigantischen Säulen dominierten Bühne sorgen Licht und Schatten für schöne Effekte, emotional verstärkt durch die Musik, die Johann Sebastian Bachs Präludium Nr. 10 e-Moll aufgreift. Da entstehen starke Bilder und Stimmungen. Und Text wird, das ist das wirklich Überzeugende all dieser neuen Inszenierungen, beim Wort genommen. Auch Christoph Mehler und Christina Zintl vertrauen dem Original, Shakespeares Othello. Ein Wasserbassin füllt beinahe die gesamte Fläche, im schwarzen Raum vor weißer Wand steht, als Silhouette nur erkennbar, Othello. Der „schwarze Mann“ als Schattenmann – ein Weg, die „Blackfacing“-Debatte zu umgehen.In ihrer Reduktion ähneln sich die drei Klassiker-Inszenierungen. Das dritte Paar, dessen Glück umständehalber an die Wand intrigiert wird, sind Hero und Leander in Franz Grillparzers Des Meeres und der Liebe Wellen. Die Leipziger Erstaufführung eröffnete die Hinterbühne, den in Lübbes neuer Spielstättenprogrammatik besonderen Ort für das besondere Stück. Die slowenische Regisseurin Mateja Koležnik lässt die Schauspieler auf einem Felsen eingeschränkt agieren, alle Konzentration gilt der Sprache. Wer darin schwelgen kann, wird glücklich sein.Theater in der DiskothekFür zeitgenössische Texte und Uraufführungen gibt es jetzt die Diskothek in der ehemaligen Probebühne. Kathrin Rögglas Der Lärmkrieg, ein Auftragswerk, öffnet den Blick auf die Gegenwart. Regisseur Dieter Boyer überführt das Wortgemetzel von Kapitalismuskritikern und Wachstumsgläubigen, Fluglärmgegnern und Landebahnverteidigern erst gegen Schluss in Handlung. Wesentlich dramatischer gelingt Und dann. Wolfram Hölls Text ist ein atemloses Erinnern in Schleifen und Wiederholungen und chorischer Überlagerung, der Autor Hörspielpreisgewinner beim Berliner Theatertreffen, ausgezeichnet auf dem Heidelberger Stückemarkt und mit dem Literaturpreis des Kantons Bern.Die Zuschauer empfängt ein Mantra: „Ein Vater/zwei Kinder/drei Verlierlinge/eine Mauer, die keine mehr ist/ein Funkgerät/ein Projektor/ein alter Super-8-Film/ein neuer, der in den alten geschnitten wird/und dann.“ Schon wie Wenzel Banneyer in einer Videoprojektion dieses „und dann“ spricht – mit Trauer, Erwartung, auch Angst –, brennt sich ein.Regisseurin Claudia Bauer nimmt den Rhythmus des Textes auf, verteilt den Monolog des Kindes aber auf vier Schauspieler und verstärkt ihn so. Die Bühne skizziert eine Plattenbauwohnung als Puppenstube. Darin wirken Vater und Kinder mit ihren riesigen Pappmaché-Köpfen so monströs wie das, wovon Höll, 1986 in Leipzig geboren, erzählt: Von den Irritationen in einer sich auflösenden Welt nach dem Mauerfall, gespiegelt in der Abwesenheit der Mutter. Das Bild wird abends vom Vater auf Häuserfassaden projiziert. Hier war zu spüren, was oft nur zu sehen war: Liebe und Wut. Verzweiflung und Zerrissenheit. Davon kann es in Leipzig gern mehr geben.