Im 18. Jahrhundert kreißte die Zeit und gebar schließlich unter Schmerzen ihren neuen Namen: Neuzeit. Damit setzte sich die Gegenwart von ihrer Vorgeschichte ab und entdeckte die Zukunft als ihre Perspektive. Die neue Dreifaltigkeit aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eröffnete den Raum eines Zusammenhangs, den wir seitdem "Geschichte" nennen. Die uns so geläufige Vorstellung der geschichtlichen Zeit ist gerade 200 Jahre alt. Und sie hat sich so tief in den Stoffwechsel unserer Kultur eingeschrieben, dass wir kaum glauben können, es hätte je ein anderes Zeiterleben gegeben. Doch unsere Zeitordnung hat ihre Zeit.
Am Anfang gab es noch viele Zeiten. So heißt es im alttestamentarischen Buch Prediger: "Alles hat seine Stunde, und es gibt eine Zeit für jedes Vorhaben unter dem Himmel: Eine Zeit fürs Geborenwerden, und eine Zeit fürs Sterben; eine Zeit, zu töten und eine zu heilen; eine Zeit, einzureißen und eine Zeit, aufzubauen." Im Buch Prediger spricht sich die vormoderne Zeitauffassung aus: Unterschiedliche Ereignisse erzeugten unterschiedliche Zeiterfahrungen. Und das erlebten auch die Menschen des Mittelalters noch in ihrem Alltag so. Zum Beispiel hatte jede Stadt ihre eigene Uhrzeit. In der Nachbarstadt tickten die Uhren anders. Erst im 19. Jahrhundert wurde die Uhrzeit im Zeichen der Eisenbahn vereinheitlicht. Und um die Jahre oder Jahrzehnte zu datieren, richtete man sich nach der Regierungszeit des jeweiligen Königs. So herrschte in den unterschiedlichen Reichen eine unterschiedliche Chronologie. Doch diese Vielheit der Zeiten schien niemanden zu beunruhigen. Den Weltzusammenhang suchte man nicht mit der Uhr.
Die vormoderne Zeitauffassung kannte zwei Parallelzeiten: einerseits die diesseitige Zeit, die Zeit der Lebenszyklen und andererseits die jenseitige Zeit der göttlichen Weltchronologie. Die irdische Zeit folgte periodischen Rhythmen und Wiederholungen des Gleichen. Sie galt als zirkulär. Die Dinge wiederholten sich auf prinzipiell gleiche Art: so wie Ernte und Aussaat, so wiederholten sich Krieg und Frieden, Aufstieg und Fall der Reiche. Alles Neue war Wiederholung. In der Zukunft älterer Bauart ereignen sich Dinge, die man im Prinzip kennt. In der modernen Zukunft gehen wir davon aus, dass wir uns selbst bald nicht mehr wiedererkennen.
Die moderne Zeitrechnung setzt sich erst im 18. Jahrhundert durch. Sie beginnt mit einem Nullpunkt der Geschichte, nämlich mit Christi Geburt. Vor und nach diesem Punkt erstreckt sich die Zeit in beide Richtungen ins Unendliche. In der altem Zeitrechnung hingegen gab es einen absoluten Anfangspunkt: die Schöpfung der Welt. Und die datierte man etwa 4.000 Jahre vor Christi Geburt, was man aus der Generationenfolge der Helden des Alten Testaments errechnete. Für die kommende Zeit gab es keinen sicheren Endpunkt. Doch die christlichen Zeitgenossen lebten in dem sicheren Gefühl, dass das Ende nahe sei. Im Grunde konnte das Donnern des Weltgerichts jederzeit ausbrechen, wenn nicht heute, dann doch bald. So war die vormoderne Weltzeit eine insgesamt ziemlich knapp bemessene Sache.
Ab dem 16. Jahrhundert erstaunen uns einige ziemlich gewagte Ausbruchsversuche aus der Enge der christlichen Weltzeit. Es ist die Zeit der kopernikanischen Wende, als man entdeckte, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums sei, sondern ein Planet unter anderen, der die Sonne umkreist. Was natürlich einen ungeheuren Angriff auf die christliche Schöpfungsgeschichte darstellte. Es ist auch die Zeit, da die Seefahrer den Horizont der bekannten Welt durchbrachen und in unbekannte Weiten vorstießen. Parallel dazu entstanden neue Entwürfe der Zeit: etwa mit Thomas Morus´ Utopia oder Campanellas Sonnenstaat. Und man kann durchaus auch die Prophezeiungen eines gewissen Michel de Notre de Dame, auch Nostradamus genannt, dazu zählen.
Das Neue an Nostradamaus und an den philosophischen Utopien bestand darin: in ihren Visionen dehnte sich die kommende Zeit enorm aus, und in der Phantasie entstanden zukünftige Wirklichkeiten, wie es noch keine gab. Und genau das ist die Zukunft im modernen Sinne.
Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert entfaltete sich die neue Zeitordnung aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Neuzeit gab sich selbst ihren Namen und wies sich damit ein Datum auf einer linearen Zeitachse zu. Die Vergangenheit bestand jetzt aus einer chronologischer Serie von datierten und kausalen Ereignissen. Nachträglich wurde in Europa die Menschheit als Schöpfer ihres Geschicks entdeckt. Die Gegenwart wurde die Folge jener Vergangenheit und die Bedingung der Zukunft. Die Zeit wurde zur Geschichte, und die Geschichte wurde zu einer ungeheuren Vereinigungsleistung im Zeichen der Zeit. Auf dieser Zeitachse traten längst vergangene Ereignisse mit möglichen Ereignissen in der Zukunft in einen Zusammenhang. In diesem Sinne schrieb der deutsche Philosoph Johann Gottfried von Herder 1797: "Die Zukunft ist eine Tochter der Gegenwart, wie diese der Vorzeit. Zwei Sätze liegen vor uns, um den dritten zu folgern. Wer jene beide recht verstehet, recht anschaut, und sodann aus ihnen folgert, hat keinen üblen Gebrauch von seiner Vernunft gemacht, die ja eben die Fähigkeit ist, den Zusammenhang der Dinge einzusehen und, wie eins im andern steckt, eins durch´s andere wird, zu schließen und zu erraten." Die Geschichte ist ein Zeit-Raum, in dem alles mit allem zusammenhängt.
In dieser Auffassung von Geschichte steckte von Anfang an ein dynamisches Moment: Die Menschheit musste sich in der Zeit nicht wiederholen, sondern sie konnte sich entwickeln. Damit wurde die Zukunft zur Perspektive der Geschichte, zu ihrem stets ausstehenden Sinn, zum Raum der Vollendung. Die moderne Zukunft hat ganz neue Qualitäten, erstens ist sie unendlich, zweitens bildet sie einen Zeitraum, in dem die Ereignisse einen Zusammenhang bilden und drittens ist diese Zukunft uns nicht vorherbestimmt in irgendeinem Buch des Lebens, sondern wir gestalten sie.
Das klingt so, als sei die Entdeckung der Zukunft eine lange rauschende Party des Aufbruchs gewesen. Doch dem war nicht so. Die Zukunft wurde auch nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt entdeckt. Sie erschien allmählich im Horizont einer Unzahl von technischen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen. Die Umstellung auf Zukunft hing eng mit der neuen Behauptung von der Mündigkeit des Bürgers und dem neuen Freiheitsbewusstsein des Individuums zusammen. Wir können nicht bloß unsere Zukunft selbst gestalten, sondern wir müssen es. Der Einzelne hatte sich seine Zukunft zu geben. Was in der Theorie erhebend klang, war in der Praxis meist niederdrückend.
So erhielt der leibeigene Bauer seine Freiheit. Zuvor genoss er einen gewissen Schutz. Doch jetzt musste er seine Produkte selbst auf den Markt bringen, um seine Pacht bezahlen zu können, oder er musste sich verschulden. Die meisten verkauften ihre Arbeitskraft an die gewaltig boomende Industrie. Die Zukunft im Zeichen von liberté, egalité, fraternité bedeutete für viele, dass sie ihre Sklaverei unter barbarischen Umständen selbst organisieren mussten. Zukunft im Sinne eines weiten offenen Zeit-Raumes fand der einfache Mann allenfalls, wenn er den Raum der Geschichte verließ und in die "Neue Welt" nach Amerika auswanderte. Was unsere Vorfahren ja auch massenweise taten. Und so wurden die Vereinigten Staaten geradezu ein Kontinent der Zukunft, wo die Verheißung der Zukunft als "Streben nach Glück" sogar Eingang in die Verfassung fand. Die Zukunft wurde zur Hefe der amerikanischen Folklore. Doch die amerikanischen Zukunftsmythen besingen vor allem die grenzenlose Aussicht auf materielles Wachstum.
Auch in Europa erkannten ganze Branchen in der Zukunft eine unerschöpfliche Ressource, etwa die Banken, wenn sie Geld auf Zeit verliehen. Und jeder Financier, der Investitionen tätigte, rechnete auf die Zukunft. Das bedeutete zugleich auch eine problematische Gegenläufigkeit: Durch die enorme Bearbeitung der Zukunft, änderte sich auch der Lauf der Dinge. Andererseits durfte sich nicht zuviel ändern, damit sich die Bedingungen für den kalkulierten Gewinn nicht änderten. So entstanden die diversen Auguren des Risikos: wenn man für ein Produkt zehn Jahre Entwicklungszeit braucht, dann muss man wissen, ob es dafür in zehn Jahren auch noch Kunden gibt oder Märkte und wie die aussahen. So wurden die Prognosekünstler zu den gefragtesten Fachleuten und in Gestalt der Banker zu den Reichsten. Heute erst recht besteht der Wert von Aktien an der Börse aus nichts als aus Zukunftsspekulationen.
Die Zukunft bot Aussicht auf Verbesserung. Man musste nur die Gelegenheit ergreifen, und sich ein Ziel setzen, um es sodann zu verfolgen. Andererseits kam die Zukunft aber auch auf einen zu mit ganz eigenen Ansprüchen. Man musste in der Gegenwart wissen, was man in Zukunft wollte. Und weil die Zukunft den Gang der Dinge veränderte, musste man bereit sein, sich auf die Veränderung einzulassen. Wer nicht dynamisch war, der veraltete rasch. Denn von nun an stand die Zeit nicht mehr still: die Gegenwart wurde zu permanenten Vorbereitung auf die Zukunft. Einerseits gingen die Menschen durch die Zeit in die Zukunft, andererseits kam die Zukunft auf die Menschen zu.
Seit dem 18. Jahrhundert berauschten sich Wissenschaft und Technik an ihrem Tempo. Entdeckung folgte auf Entdeckung, und jede ermöglichte tausend neue. Ein Jahrhundert lang waren die Ingenieure die Priester der Zukunft, dann kamen die Physiker und in immer kürzeren Abständen folgten neue Propheten eines neuen Wissens, das versprach, die Menschheit in noch gelobtere Länder zu führen.
Von Anfang an wurden die Visionäre des neuen Wissens von Skeptikern begleitet. Als einer der Urväter der modernen Fortschrittsskepsis gilt der französische Philosoph und Schriftsteller Jean-Jacques Rousseau. Bereits 1750 bezweifelte er grundsätzlich, dass der Fortschritt der Wissenschaften zur Läuterung des Menschengeschlechts beitrage.
Noch weiter gingen die schwarzen Utopien der ersten Science Fiction Romane wie etwa Frankenstein von Marie Shelley aus dem Jahre 1818, dem viele dunkle Visionen ähnlicher Bauart folgen werden. Dem Mensch entgleitet die Kontrolle über seine Schöpfung. Und seine Kreaturen fressen ihre Erzeuger.
Karl Marx hingegen plädierte dafür, die gegenwärtige laufende Zukunftsmaschine namens Kapitalismus zu stoppen, damit es überhaupt eine Zukunft geben kann, über die die Menschen selbst verfügen. "Erst dann" - so Marx - "wird der menschliche Fortschritt nicht mehr jenem scheußlichen heidnischen Götzen gleichen, der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte."
Das ist natürlich die entscheidende Frage, die sich in den letzten 200 Jahren immer wieder stellte: Ob wir über unsere Zukunft noch verfügen oder ob sie nicht längst über uns verfügt.
Die Zukunft ist auch nicht mehr, was sie einmal war. Es hat sich viel verändert seit der Entdeckung der Zukunft. Zunächst ist die Einheit unseres Geschichtsraumes wieder zersplittert. Während man lange Zeit glaubte, die Vergangenheit gäbe Richtungen für die Zukunft vor und stelle Erfahrungen für die Herstellung von Zukunft zur Verfügung, geht es heute auf fast allen Gebieten darum, die Vergangenheit umgehend zu liquidieren. Was wir gestern gelernt haben, hindert uns heute am Wissen von morgen. Die Vergangenheit wurde in die Museen ausgelagert - als eine Art Kostümfundus des Menschen früherer Zeiten. In präparierten Andachtsräumen gedenken wir der Vergangenheit als dem unwiederbringlich Vergangenen. Und nur in diesem Sinne hat die Vergangenheit heute kulturelle Hochkonjunktur: als Stilleben des Gedächtnisses. Doch die Gegenwart kann nicht an jene bloß erinnerte Vergangenheit anschließen. Sie lauert auf die Geräusche der Zukunftsbrandung.
In ihrem Buch Patchwork-Leben und Karriere Plan. Lebensgestaltung in mobilen Zeiten hat Gabriele Kosack Dutzende von Zeitgenossen nach ihren Lebensplänen gefragt. Und die 7- bis 70-Jährigen geben schier unisono zu Protokoll, keine zu haben. Ihre Erwartungen und Handlungen scheinen sich darin zu erschöpfen, sich für die Zukunft bereit zu halten. Dabeisein ist alles.
Offensichtlich ist die Zukunft kein offener Raum mehr, in den sich der Einzelne oder die Gesellschaft perspektivisch entwerfen kann. Statt dessen kommt die Zukunft auf uns zu: unbegreiflich, aber voller strenger Verfügungen, denen wir zu gehorchen haben. Deshalb funktioniert die Gegenwart wie eine Börse: alle beobachten alle möglichen Entwicklungen. Doch niemand weiß, wo es lang geht. Wenn man in irgendeiner Zukunft die mentale Verfassung unserer Tage beschreiben will, dann wird man vielleicht von einem hysterischen Stupor sprechen: - von der Erstarrung in der hellen Aufregung.
Experten glauben zu wissen, dass die Hälfte aller Jugendlichen von heute in ein paar Jahren Berufe ergreifen wird, die es zur Zeit noch gar nicht gibt. Dieselben Experten meinen berechnen zu können, dass ein großer Teil dieser Jugendlichen zu Sozialfällen wird. Folgerichtig besteht Bildung heute darin, grenzenlose Verfügbarkeit hart zu trainieren - um im Extremfall Identitäten routiniert austauschen zu können.
Vom Fortschrittsglauben des 19. und 20. Jahrhunderts ist nichts geblieben als ein irres Dogma: Wachstum, Wachstum, Wachstum. Doch die Kardinäle der Steigerung haben keine Ahnung von der Zukunft, die sie pausenlos beschwören. Jene moderne Zukunft, die vor etwa 250 Jahren ausgebrochen ist, liegt schon wieder hinter uns: Ihre charakteristischen Momente gelten nicht mehr: Endlosigkeit, Offenheit, geschichtlicher Zusammenhang, Vollendungsraum. Eine neue Zukunft ist ausgebrochen, und wir leben in frommer Erwartung ihrer Heimsuchungen.
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