"Die herrschende Elite lebt in einem Rausch"

Interview Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband beklagt eine Verdrängung des Armutsproblems, damit "die Party der freien Marktwirtschaft weiter gefeiert werden kann"
Ulrich Schneider: "Wir haben in Deutschland einen großen Verteilungskonflikt."
Ulrich Schneider: "Wir haben in Deutschland einen großen Verteilungskonflikt."

Bild: Imago/Jürgen Heinrich

Thomas Leif: Armut wird meist nur wahrgenommen, wenn sie sichtbar ist. Sind die Obdachlosen die wahren Armen?

Ulrich Schneider: Wir haben gerade bei der Wohnungsnot ein riesiges Problem vor uns. Wir haben jetzt schon etwa 39.0000 Menschen, die auf der Platte leben, die wirklich ohne Dach über dem Kopf sind. Wir haben einige 100.000, die keine Wohnung haben und wir dürfen eines nicht vergessen – die 800.000 bis eine Million Flüchtlinge, die 2015 zu uns gekommen sind und noch kommen werden. Die werden, wenn wir nicht irgendwas unternehmen, im nächsten Jahr wohnungslos sein.

Aber diese Diagnose zeigt wenig Wirkung.

Was wir im Moment erleben, ist eine Verdrängung des Problems. Gerade Wohnungsnot und gerade auch das Problem der Flüchtlinge. Da kann man wirklich nur fassungslos zuschauen, wie Symbolpolitik diskutiert wird und wie man davon spricht, Familiennachzug zu verhindern. Und wie man darüber streitet, ob es Transitzonen oder Auffangzonen oder wie auch immer heißen soll, anstatt sich tatsächlich die Frage zu stellen und auch politisch zu beantworten: Wo kriegen wir diese Menschen im nächsten Jahr überhaupt unter?

Haben Sie eine schlüssige Erklärung, warum die Armutszahlen, die Sie auch seit Jahren vortragen – gehen wir von rund 15 Prozent der Gesellschaft mit Armutsgefährdung aus – keinen Widerhall finden?

Nicht ganz Deutschland, aber sagen wir mal, die herrschende Elite in Deutschland lebt in einem Rausch. Wir haben ungeheuer gute Arbeitsmarktzahlen, ungeheuer gute Wirtschaftszahlen, wir sind die führende Wirtschaftsnation in Europa, die Welt schaut auf uns. Da will man mit solchen Zahlen – also 15 Prozent Armut – nichts zu tun haben. Ganz im Gegenteil, man leugnet, dass diese Menschen arm sind und sagt stattdessen: "Arm ist doch nur, wer unter Brücken schlafen muss. Die haben doch bescheidenes Hartz IV, was wollt ihr überhaupt?" Es wird verdrängt und geleugnet, damit die Party der freien Marktwirtschaft weiter gefeiert werden kann.

Was ist Ihr Konzept gegen diese Entwicklung?

Wir müssen den Menschen die Augen öffnen. Wir müssen ihnen beibringen, Armut überhaupt zu sehen. Armut ist nicht öffentlich. Armut ist nicht nur Verelendung. Armut fängt auch dann an, wenn Kinder ausgegrenzt sind und wenn sie nicht mehr im Sportverein oder beim Musizieren mitmachen können, oder auch bei Schulveranstaltungen, die Geld kosten, zu Hause bleiben müssen. Die Menschen müssen sehen lernen: Was passiert hier eigentlich um uns herum an Ausgrenzung? Das ist der erste Schritt. Wir müssen darüber hinaus, wenn die Menschen das begriffen haben, auf die Politik Druck machen, tatsächlich zu einer gerechteren Sozial-, vor allem aber auch Finanz- und Steuerpolitik umzusteuern.

Aber nicht einmal die Wohlfahrtsverbände sind sich in der Analyse einig. Die Caritas wirft ihnen beständig einen wirkungslosen Alarmismus vor?

Ob die Caritas uns angegriffen hat, weiß ich gar nicht. Es war der Generalsekretär, der eine Einzelmeinung der Caritas hier sehr populär in der FAZ geäußert hat. Die FAZ hat ihm eine Seite zur Verfügung gestellt, damit er uns angreifen kann. Warum er das tut, da müssen Sie ihn fragen. Mir ist das völlig schleierhaft, wie ein so um die Armutsbekämpfung verdienter
Verband solche Angriffe gegen den relativen Armutsbegriff loslassen kann. Und darum geht es ja. Ich weiß es nicht.

Was steckt hinter dem Konflikt?

Der politische Kern ist die Verteilungsfrage. Armut ist ein Imperativ. Armut ist immer auch eine Anklage gegen die, die abgeben könnten, aber es nicht tun. Und je weiter diese Gesellschaft in Deutschland zwischen Arm und Reich gespaltet wird, umso mehr mauern sich Reiche ein und versuchen, all die in die Ecke zu stellen, die Armut anprangern, indem sie sagen: "Ihr bauscht auf, ihr skandalisiert", um ihren Reichtum zu schützen.

Aber diese Argumentation wird von vielen Wirtschaftsverbänden geteilt.

Dieses Argumentationskonzept funktioniert noch. Ich glaube, im Moment sind wir an einem Punkt angelangt, an dem viele merken, dass sie nicht mehr mithalten können. Und wenn ich mir anschaue, dass wir mittlerweile Abiturfeiern für normale Abiturienten veranstalten, bei denen man Eintrittspreise von bis zu 70 Euro zahlt, dass mittlerweile Klassenfahrten unternommen werden, auf denen es nach Florenz oder New York geht, da können viele einfach nicht mehr mithalten. Die merken das auch. Sie trauen sich noch nicht, es zu sagen – aber wir. Und genau das ist unsere Aufgabe. Wir müssen diesen Menschen endlich eine Sprache geben.

Aber selbst der Caritas-Generalsekretär sieht das anders. Er sagt: Sie übertreiben mit Ihrer Armutsrhetorik.

Der Caritas-Generalsekretär hat in seinem Beitrag, in dem er uns angreift, geschrieben, wir dürfen das Kind nicht so beim Namen nennen, wie wir es tun, weil wir sonst die Mittelschicht
verunsichern und die Errungenschaften des Sozialstaates schlechtreden würden. Ich denke jedoch, das ist nicht unsere Aufgabe. Es kann nicht darum gehen, irgendwas, was nicht funktioniert, über den grünen Klee zu loben. Wir müssen stattdessen Klartext sprechen und den Menschen sagen, was los ist.

Warum ist denn Armut so ein heikles Thema? Es gibt ja stapelweise Armuts- und Reichtumsberichte. In Baden-Württemberg wird ja jetzt zurückgehalten. Es gibt eine Kommission bei Frau Nahles, die versucht, den Armutsbegriff neu zu definieren. Warum ist das Thema so heiß?

Jeder, der Armut anspricht und Armut diagnostiziert, stellt der Politik ein Armutszeugnis aus. Das ist es, was den Umgang mit dieser Problematik gerade für die Politik so ungeheuer schwierig macht.

Und warum stehen Sie weitgehend allein mit dieser Position?

Wir stehen ja nicht ganz allein da. Wir haben die Gewerkschaften auf unserer Seite, wenn es um Armutsbekämpfung geht.

Doch eher verhalten. Die vielen Untersuchungen werden doch von der Politik nicht einmal mehr aufgegriffen?

Sehen Sie beispielsweise ver.di und gerade den Vorsitzenden von ver.di, Frank Bsirske, der immer sehr klare Worte findet. Auch haben wir die meisten Wohlfahrtsverbände auf unserer
Seite, auch die Sozialverbände, wie den VdK beispielsweise, wo Frau Mascher, die Vorsitzende, außerordentlich präzise Worte findet. Wir sind nicht alleine!

Und trotzdem tut sich nichts. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Es hätte sich beinahe was getan. Wir hatten im letzten Bundestagswahlkampf 2013 eine Mehrheit der Bevölkerung hinter uns, die eine andere Steuer- und Finanzpolitik wollten und die eine Politik wollten, die auch Armut bekämpft. Wir hatten dann nach den Wahlen im Bundestag eine Mehrheit unter den Fraktionen, die genau mit diesem Versprechen in den Wahlkampf gegangen waren. Es war dann in der Tat erst die Entscheidung der SPD, eine Große Koalition zu bilden und es war die Abkehr des SPD-Vorsitzenden Gabriel von dem Wahlkampfversprechen, die dann dazu führten, dass sich in dieser Legislaturperiode so gut wie nichts bewegt in Sachen Armutsbekämpfung.

Die Arbeitsministerin möchte den Armutsbegriff auch auf die wirklich Bedürftigen konzentrieren.

Frau Nahles hat wirklich eine sehr perfide Argumentation gefahren. Was sie nämlich damit sagt, ist, dass die anderen gar nicht bedürftig sind. Hier braucht es überhaupt keine politische Intervention. Das Ziel dieser Aktion ist klar: Sie will den Armutsbegriff kleinraspeln, sodass er mit den bescheidenen Mitteln, die sie von Herrn Schäuble bekommen hat, überhaupt bearbeitbar wird. Nur sie wird damit in Deutschland das Problem der tiefen Spaltung zwischen Arm und Reich, das Problem, dass Millionen von Kindern mittlerweile abgehängt sind, niemals lösen können. Was sie löst, sind ihre parteipolitischen Probleme und ihre naheliegenden Alltagsprobleme als Ministerin.

Ist das realistisch, dass der bislang gültige und eingeführte "Armutsbegriff" korrigiert und neu definiert wird?

Wir können uns darauf einstellen, dass Frau Nahles weiter versuchen wird, den Armutsbegriff auf tatsächliches Elend zu reduzieren, sodass das Thema verschwindet. Wir können aber auch versprechen, dass das nicht gelingen wird, weil wir, der Paritätische, andere Wohlfahrtsverbände und viele Wissenschaftler, sehr lautstark dagegenhalten werden.

Was ist die Motivation der Politik, die Armutsthematik zu regulieren?

Die Politik weiß sehr gut: Wenn sie wirklich Armut bekämpfen wollte, müsste sie in Deutschland tatsächlich umverteilen. Sie müsste den Reichen nehmen. Sie müsste die Erbschaftssteuer erhöhen. Sie müsste die Vermögenssteuer einführen. Sie müsste die Spitzensätze in der Einkommenssteuer erhöhen. Sie müsste einer Klientel wehtun, die ja offensichtlich sehr wichtig ist. Das will sie nicht und deswegen leugnet sie Armut, deswegen schreibt sie Armut klein.

Es geht also um einen Verteilungskonflikt.

Wir haben in Deutschland einen großen Verteilungskonflikt. Wir haben mittlerweile zehn Prozent in der Bevölkerung, der gehört 60 Prozent des gesamten Vermögens. Andersrum haben 70 Prozent kaum was, leben von der Hand in den Mund, und die Reichen, je reicher sie werden, wollen immer weniger abgeben. Das ist ein Verteilungskonflikt. Die jetzige Bundesregierung ist klar auf der Seite derer, die nicht abgeben wollen.

Aber selbst die Wohlfahrtsverbände sprechen hier nicht mit einer Stimme.

Das hat mich sehr erstaunt, dass wir auch in den Wohlfahrtsverbänden plötzlich Stimmen haben – wie etwa aus dem Caritasverband heraus –, die sagen: "Mit der Armut ist es doch eigentlich gar nicht so schlimm, wie der Paritätische und alle anderen Verbände behaupten." Es ist außerordentlich erstaunlich. Es schwächt natürlich unsere Position, das muss man ganz klar sagen. Ich finde es bedauerlich und ich denke, dass innerhalb der Caritas darüber wohl auch nochmal diskutiert werden wird.

Sie reden ja wie ein Politiker, ganz diplomatisch.

Ich bin ein Politiker.

Warum reden Sie nicht mit der Caritas, argumentieren und belegen ihre Einschätzungen der Lage?

Wir haben einen Austausch mit der Caritas darüber, aber die Position, die in diesem Falle der Generalsekretär der Caritas vertritt, sind an der Stelle relativ unversöhnlich.

Kritiker wie der DIW Präsident Wagner sagen, dass bei vielen als arm definierten Bürgern deren Erbschaften, Wohnungseigentum und andere Vermögenswerte aus der Statistik fallen und sich deshalb ein Zerrbild ergibt?

Es gibt kein ganz anderes Armutsbild, wenn man Erbschaften, Vermögenseinkünfte etc. mit berücksichtigt, weil die Leute mit dem kleinen Einkommen keine großen Vermögen haben. Die haben keine Villen und keine Schlösser und keinen Bentley in der Garage. Die haben einfach nichts, das ist so. Die großen Vermögen, auch die großen Grundvermögen, Häuser, ganze Wälder, sind bei denen mit dem ganz starken Einkommen, nicht bei denen mit dem untersten in der Skala. Von daher greift dieses Argument nicht.

Sie arbeiten ja schon lange am Konfliktthema Armut. Was ist ganz persönlich Ihre Strategie? Wie wollen Sie das Thema in den nächsten Jahren angehen?

Um Armut öffentlich zu diskutieren und erfolgreich bekämpfen zu können, müssen wir die Menschen mitnehmen. Wir müssen den Menschen beibringen, Armut zu erkennen, Armut zu sehen und Mitmenschlichkeit zu entwickeln. Wenn wir Armut erfolgreich bekämpfen wollen, müssen wir bei den Menschen ansetzen. Es geht auch darum, dass wir Menschen zu mehr Solidarität und zu mehr Menschlichkeit erziehen. Dann haben wir eine Chance. Dann kann die Politik gar nicht mehr anders als der Bevölkerung und den Wählern zu folgen.

Wir haben Schulklassen gebeten: "Teilt uns mit, fotografiert, bastelt, macht was. Was ist für euch Armut?" Wir wissen aus den Jugendverbänden, dass solche Arbeit passiert, dass man hingeht und sagt: "Wir suchen arme Menschen auf, die man nicht sofort erkennt und auf den Straßen sieht." Ich glaube, das ist erfolgsversprechend. Es ist ein langer, aber nur dieser Weg über die Menschen führt zum Erfolg.

Wer ist in dieser Gesellschaft stärker? Die Armen oder die Reichen?

Im Moment sind die Reichen in dieser Gesellschaft ganz klar die Stärkeren. Da müssen wir uns nichts vormachen. Es ist unsere Aufgabe, das politisch zu ändern.

Ist ihre Engagement nicht eine Art Sisyphosarbeit?

Wenn es wirklich eine Sisyphosarbeit sein sollte, Armut zu bekämpfen, dann kann ich mit Camus sagen: Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.

Info

Leif trifft ...: Sendung am 16.3.2016 um 20.15 Uhr "Das arme Deutschland - kein Wohlstand für Alle" von Thomas Leif und Harold Woetzel

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