Die Interessen der Frauen sind zweitrangig

Brustkrebs in Deutschalnd Helga Ebel, Krebsberatungsstelle Aachen, und Dr. Angela Spelsberg, Leiterin des Tumorzentrums Aachen, über Gründe dafür, daß die Bekämpfung von Brustkrebs in anderen Ländern Europas erfolgreicher ist als in Deutschland

Die RU 486 und die Frage, welche Methode der Abtreibung für die Frau schonender ist, verdrängen derzeit Themen aus dem Bereich Frauengesundheit, die viel dringender öffentlich diskutiert werden müßten. Absolute Priorität verlangt die Bekämpfung von Brustkrebs. Jede achte Frau in Deutschland erkrankt heute daran. Könnte man sich im hiesigen Gesundheitswesen dazu entschließen, ein - in anderen europäischen Staaten längst übliches - qualitativ hochwertiges Screening für die am meisten gefährdete Altersgruppe der über 50jährigen einzuführen, würden nach Angaben des Zentralinstituts für die Kassenärztliche Versorgung (Köln) pro Jahr circa 3.000 Frauen weniger an Brustkrebs sterben. Geplant ist nun, in drei Modellregionen ein solches Früherkennungssystem einzuführen. Darum beworben hat sich unter anderem Aachen, dessen Krebsberatungsstelle und Tumorzentrum mehrfach mit Preisen ausgezeichnet wurden.

FREITAG: Warum widersprechen Sie Forderungen, die Brustkrebsbekämpfung müsse sich stärker auf die Forschung konzentrieren, wie es in den USA geschieht?

SPELSBERG: Andere Länder haben seit langem - Schweden seit mehr als 20 Jahren, die Niederlande und Großbritannien seit zehn Jahren - flächendeckende Programme zur Verbesserung der Brustkrebsfrüherkennung. Jede Frau im anspruchsberechtigten Alter, also zwischen 49 und 69 Jahren, kann dort alle zwei Jahre an einer kostenlosen Mammographieuntersuchung teilnehmen. Finanziert von den Krankenversicherungen beziehungsweise vom Staat. Eine solche Investition in die Gesundheit von Frauen gibt es bei uns in Deutschland bisher nicht.

Aber in Deutschland werden doch jedes Jahr drei Millionen Mammographien durchgeführt.

SPELSBERG: Ja, aber in der kurativen Versorgung: Es muß ein Grund, eine Rechtfertigung vorliegen - also ein Tastbefund, eine Auffälligkeit oder ein großes Risiko wegen Krebs bei Verwandten. In Schweden, Großbritannien und den Niederlanden hingegen kommt diese Art der Untersuchung grundsätzlich allen Frauen der Hauptrisikogruppe der 50- bis 70jährigen zugute. Eine qualitätsgesicherte Früherkennung, die wir vom Tumorzentrum Aachen fordern und die bereits in anderen europäischen Ländern mit Richtwerten und Normen in Kraft ist, muß eine qualifizierte Betrachtung der erstellten Bilder garantieren, damit nichts übersehen wird, damit aber auch die vielen falsch positiven Befunde endlich der Vergangenheit angehören. Jede Mammographieuntersuchung muß dokumentiert werden, sie muß von zwei besonders ausgebildeten Mammographieexperten bewertet werden, von denen jeder pro Jahr mindestens 8000 Mammographien beurteilt.

Was Sie fordern, klingt für mich wie selbstverständlicher Mindeststandard. Was ist denn gängige Praxis in deutschen Praxen?

SPELSBERG: Wildes Screening. Erst einmal ist es abhängig davon, ob eine Frau zum Arzt geht, der sie zur Mammographie überweist. Dann das Erkenntnisinteresse: Es geht nicht, wie in Schweden, darum, zu klären, ob die Brust einer Frau gesund ist oder nicht, sondern es geht darum, eine als auffällig angesehene Stelle bis zum Letzten abzuklären. Jede gutartige Veränderung wird also auch zur Rückversicherung des Arztes mit allen verfügbaren technischen Mitteln abgeklärt, bis zur Operation. - Qualitätsgesichertes Screening forscht nur nach Tumoren: Nur wenn zwei Fachleute unabhängig voneinander ihn vermuten, wird die Frau zur Nachkontrolle bestellt. Dieses Verfahren setzt die Frauen weniger Angstsituationen durch Fehlalarm aus. So vermeidet man unnötige invasive Prozeduren.

Wer interpretiert denn in Deutschland die Mammographiebilder?

SPELSBERG: Der Arzt, in dessen Praxis sie gemacht werden. Auf der Basis dessen, was er gelernt hat. Wir haben aber schon mehrfach festgestellt, daß es große Unterschiede im Fachwissen und der Diagnosesicherheit gibt.

Wie beurteilen Sie die Qualität der Mammographiegeräte?

SPELSBERG: Für ein Screening nach dem schwedischen Modell gibt es in Deutschland noch keine Qualitätsvorschriften. Bei der kurativen Arbeit gelten andere Standards bezüglich der Bildauflösung der Geräte, der Strahlenbelastung undsoweiter. Schwedischen Vorschriften würden die meisten Geräte in Deutschland nicht genügen.

Sie sprachen vorhin von der Risikogruppe der 50- bis 70jährigen Frauen. In Deutschland werden aber zunehmend auch viel jüngere Frauen zur Mammographie geschickt.

SPELSBERG: Leider, denn die Brust einer jungen Frau ist strahlensensibler als die einer älteren. Außerdem ist das Gewebe viel dichter, das macht es sehr viel schwerer, das Bild zu beurteilen. Da das Brustkrebsrisiko unter 49 Jahren signifikant geringer ist, steigt die Wahrscheinlichkeit von falsch positiven Befunden bei jungen Frauen enorm. Bisher gibt es keine Studie, die eindeutig belegen würde, daß 30- bis 45jährige Frauen Überlebensvorteile davon hätten, regelmäßig zur Mammographie zu gehen. Bei den über 49jährigen Frauen gibt es jedoch klar belegbare Überlebensvorteile.

EBEL: Fatal ist, daß viele Frauenärzte junge Frauen sogar wegen Beschwerden zur Mammographie schicken, für deren Aufklärung diese Durchleuchtung der Brust überhaupt nichts leisten kann: Ziehen in der Brust, Zyklusbeschwerden, Brustdrüsenentzündung.

Es werden also Frauen mit Untersuchungen und falsch positiven Befunden in Angst versetzt, ohne daß es dafür eine medizinische Rechtfertigung gäbe?

SPELSBERG: Es ist kompliziert - die Angst vor Brustkrebs ist bei Frauen und bei Ärzten groß. Bestimmte Regeln werden nicht beachtet, die Altersfrage wird nicht genügend berücksichtigt. Es gibt zwar auch Brustkrebs bei jüngeren Frauen, aber sie sind nicht die Hauptrisikogruppe, auch wenn die Medien über diese Fälle besonders oft berichten. Am höchsten ist das Risiko, wenn das 50. Lebensjahr überschritten wurde. Aber wen interessiert das? Dann das Problem Früherkennung: Die meisten Frauen betrachten sie als Teil der Gynäkologie und gehen nach der Menopause nicht mehr hin. Die Brustkrebsfrüherkennung beschäftigt sich daher in der Praxis mit den wenig gefährdeten jüngeren Frauen, statt mit den älteren. Ohnehin nutzt nur etwa ein Drittel der Frauen die Früherkennung.

EBEL: Kein Wunder, wenn die Qualität so ungenügend ist. 1992 wurden bei den Krankenkassen sechs Millionen Tastuntersuchungen der Brust im Rahmen der Früherkennung abgerechnet. 52.974 hatten einen »positiven» Befund, davon waren 1.348 Krebs, also 97 Prozent waren falsch positiv. Diese Frauen sind also unnötig in Angst versetzt und viele davon unnützerweise operiert worden.

Und wieviel falsch negative Beurteilungen gab es, also Krebs, der bei diesen Untersuchungen nicht erkannt wurde?

EBEL: Das ist zur Zeit überhaupt nicht feststellbar, es gibt ja kein zentrales Register für alle Vorsorgeuntersuchungen und Krebserkrankungen. - Übrigens sind die Krankenkassen seit langem bereit, eine regelmäßige Mammographie für ältere Frauen ins Programm der Früherkennung aufzunehmen. Aber die Ärzte sind nicht bereit, die Bedingung dafür zu erfüllen: sichere Qualitätsstandards einzuführen.

Weshalb mauern die Ärzte? Weshalb übernehmen sie nicht europäische Qualitätsstandards und Leitlinien?

EBEL: Die Screening-Methode ist hier nicht verbreitet. Vor allem sind die Ärzte nicht gewohnt, daß man sein eigenes Urteil durch das unabhängige Urteil eines Kollegen einer Prüfung unterzieht, wie es bei der Doppelbefundung im Screening vorgeschrieben ist. Die Ärzte sagen zwar, »natürlich tauschen wir uns aus«, aber im Routinebetrieb geschieht das nicht. Die meisten fühlen sich überhaupt nicht wohl bei dem Gedanken, derart kontrolliert zu werden.

SPELSBERG: Obwohl sie dann bald merken würden, daß die gegenseitige Kontrolle auch ihrer eigenen Sicherheit als verantwortlicher Diagnostiker dienen würde. Der Arzt lernt durch die besondere Mammographieausbildung und die fortwährende gegenseitige Kontrolle einzuschätzen, wo er selbst steht, wie fähig er für diese Aufgabe ist. Die Ärzte würden durch die gegenseitige Kontrolle enorm dazulernen, Bilder immer zuverlässiger beurteilen können ...

... geschützt von der weitverbreiteten Vorstellung, Krebs sei schwierig zu erkennen und die Vielzahl der Untersuchungen diene der Patientin und beweise die Qualität des Arztes.

EBEL: Ja. Dazu kommt noch der Aspekt, daß die Ärzteschaft bei qualitätsgesichertem Screening vielleicht auch befürchtet, daß dann die jungen Frauen nicht mehr in so hoher Zahl zur Mammographie kämen. Das wäre dann ein Einkommensverlust.

Wo steht denn Deutschland international bei der Brustkrebsbekämpfung?

SPELSBERG: Ziemlich hinten. Vorn ist Schweden, gefolgt von Großbritannien und den Niederlanden. Die Schweden haben eine mittlerweile gesicherte Sterblichkeitsreduktion, Briten und Holländer entdecken die Tumore in zunehmend früherem Stadium, so daß die Behandlung für die Frauen immer schonender wird. Auch die Treffsicherheit, also die Fähigkeit, einen Tumor zweifelsfrei als Tumor zu identifizieren, ist bereits erheblich verbessert. Die Niederlande hatten 1990 die gleiche Stadienverteilung bei der Diagnose von Brustkrebs wie wir in der Aachener Region. Dann haben sie qualitätsgesichertes Screening eingeführt, und nun ist bei 80 Prozent der dort am Screening teilnehmenden Frauen der Brustkrebs noch in einem sehr frühen Stadium - unter zwei Zentimeter, kaum oder gar nicht tastbar und ohne Streuung in Lymphknoten oder andere Organe. In der Aachener Region entdecken wir den Brustkrebs nur in 30 Prozent der Fälle in einem so frühen Stadium.

EBEL: Dabei stecken die Kassen sehr viel Geld in die Früherkennung - nur versäumen sie, auf unabhängiger Qualitätskontrolle zu bestehen. Deshalb ist nichts passiert. Ärzte sagen heute sogar: Was soll die Früherkennung, Brustkrebs ist doch so gut therapierbar. Für die Frauen heißt das Bestrahlung, Chemotherapie, Amputation.

Wie wichtig war für den Erfolg der Holländer das Krebsregister?

EBEL: Das Krebsregister ist ein Politikum. Weil es in den Niederlanden ein funktionierendes Krebsregister gab, das die Leistungen der Ärzte registrierte und kontrollierte, haben die Holländerinnen 1990 ultimativ von der Regierung gefordert, daß sofort eine wirksame Brustkrebsfrüherkennung eingeführt werden müsse.

SPELSBERG: In Deutschland gibt es ein Bundeskrebsregistergesetz und - teilweise weit weniger zupackende - Krebsregister der Länder. Die Politik kann sich nicht zu einem gemeinsamen Projekt durchringen. Die Ergebnisse sind höchst unbefriedigend, das Krebsregister Münster etwa erfaßt nur eine kleine ländliche Region mit etwa zwei Millionen Menschen - während die 18 Millionen Menschen in NRW vielfach in Ballungsräumen leben. Das Krebsregister würde viele Umweltrisiken in ein klareres Licht rücken, mit Folgen für Wirtschaft und Politik. Daß die Einführung in Deutschland nicht gelingt, ist eine Tragödie für die Menschen hier. - Ohne das Krebsregister ist die Qualität der Versorgung nicht zu beurteilen. Ohne Krebsregister leisten wir uns ein Milliarden teures Gesundheitssystem, das selbst bei dieser Massenkrankheit auf Qualitätssicherung verzichtet. Jeder kann machen, was er will.

EBEL: Weil die politische Brisanz unserer Arbeit in Krebsberatungsstelle und Tumorzentrum so offenbar ist, will jetzt die Kassenärztliche Vereinigung die Datensammlung, die wir bisher betrieben haben, unter ihre Hoheit bringen. Die Ärztekammer will die Qualitätssicherung an sich ziehen. Das wäre Selbstkontrolle, aber nicht unabhängige Kontrolle. Der für die Ärzte angenehme Effekt wäre dann, daß wir Ruhestörer ausbluteten, weil uns Aufgaben entzogen würden.

Damit wird dann im Endeffekt sowohl die Sachkenntnis von Betroffenen ausgegrenzt, als auch die Parteinahme für Frauen geschwächt. Gibt es in anderen Ländern Parallelen zu dieser Tendenz?

EBEL: Im Gegenteil, in den Niederlanden etwa werden regionale Kommissionen eingerichtet, in denen auch die Patienten selbst sitzen, um die Behandlung zu optimieren. Dahinter steht die Medizinethik des 20. Jahrhunderts - Stichwort »informierte Zustimmung des Patienten«. In Deutschland herrscht immer noch die Medizinethik des 19. Jahrhunderts vor - der Arzt entscheidet über die Therapie, denn er hat das Fachwissen. Wir hoffen darauf, daß sich das Kräfteverhältnis durch die europäische Ebene verschiebt. Wir fordern Sanktionen für Ärzte, die junge Frauen immer wieder ohne standhaltende Begründung Mammographien aussetzen. Seien es weniger Honorar, Entzug der Approbation oder Haftpflicht. Im Interesse der Frauen müssen verbindliche Regeln aufgestellt und eingehalten werden.

Das Gespräch führte Stefanie Christmann

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