Die Jas und die Neins

RADIKALER VOLLZUG Die Dekade der Moralfestspiele

Die Realität hat bekanntlich ihre Gebrauchsanweisungen gefressen und eine Menge Verstörter zurückgelassen. Aus Regeltechnikern sind Deregulierungskränkelnde geworden, die ein doppeldeutiges Heil verzehrt: Stillhalten und flexibilisieren. Man weiß ja nie, was kommt, worum sich alles dreht und bald nicht mehr oder anders dreht. Erstarrt auf dem Sprung sind wir bis in die intimste Regung vergesellschaftet, aber scheitern werden wir allein und an uns selbst. Das autonome Individuum versteht weder sich noch die Welt. Wo es lang geht, beobachtet es in der Öffentlichkeit: die Börse der Realität. Beobachter beobachten Beobachter. Da in einer Welt undurchschaubarer Vergesellschaftung das zwangsindividuierte Individuum nichts mehr ängstigt und faktisch überfordert als der »eigene« Blick, sucht es unentwegt Anschluß an die Denkklubs, Meinungsstile, Überzeugungsrituale und die ready mades der Orientierung. Es geht nicht um Analysen, sondern nur noch um Abstimmungen im Ja/Nein-Schema. Für die Veranstalter der öffentlichen Meinungsspiele ist es wichtig (und schwierig), nur solche Fragen zu stellen, die einerseits glauben machen, hier werde über den Gang der Dinge entschieden, andererseits aber nur in der Sphäre des Symbolischen für Aufregung und Umsatz sorgen und somit gegen das Reale abschotten. Kurz, Moralfestspiele einer geschlossenen Gesellschaft: der Stupor der Hotlines. Seit zehn Jahren läuft die gleiche Vorstellung.

1991 hat H. M. Enzensberger mit seiner atemberaubenden Gleichung »Saddam = Hitler« zweierlei suggeriert. Erstens: Golfkrieg II sei eine moralische Angelegenheit, die uns zur Abstimmung vorläge. Und zweitens: Künstlerintellektuelle seines Schlages schrieben das politische Kursbuch unserer Tage und scheuten keineswegs den radikalen Vollzug. Aus dieser Vorlage gingen zwei Bruderschaften hervor, die auch die folgenden Kriege unter sich ausmachen: die Bellizisten und die Pazifisten, die Jas und die Neins. Die redegewaltigen Jas rekrutierten sich auffällig aus den Kreisen ehemals strammer Weltverbesserer und Geschichtsphilosophen. Zum Beweis ihrer Läuterung - schließlich haben sie nie die Mysterien ihrer Metamorphose preisgegeben - schmücken sie die überall ablesbaren Strategien der Macht mit den kostbaren Signaturen des Tiefsinns. Die weißen Bettlaken der Neins dagegen wehten über den verbliebenen Hütten der sogenannten neuen sozialen Bewegungen, denen es seitdem die Sprache verschlagen hat. »Unheimlich betroffen« und von »Wut-und-Trauer« total gelähmt, verwechseln sie ihre Gemütsbulletins mit Kritik. Im Eifer des Gefechts übersahen alle, daß im politischen Raum niemand auf die Endabstimmung tapferer Moralisten wartete. Den langen Balkankrieg über tobte die aufgeregte Redeschlacht weiter. Allerdings gaben sich jetzt die Bellizisten als die wahrhaft Empfindlichen aus. Vor ihren Fernsehern litten sie unsäglich, daß »nur zwei Flugstunden« vom Mittelpunkt der Zivilisation Menschen einander erschlugen.

Nach Golfkrieg II wurde einer mäßig interessierten Öffentlichkeit mitgeteilt, die Sandstürme der Befreiung hätten Zehntausende Menschenleben gekostet und eigentlich niemanden befreit. Zwei Diktaturen errichteten fröhlich auf Trümmern ihre Zukunft. Man hätte sogar schon vorher wissen können, daß über 50 Militäreinsätze der USA nach dem Weltkrieg II viele Millionen Tote und verwüstete Regionen hinterlassen haben. Von Seelen reden wir hier nicht. Niemand wurde je befreit, stets blieben stabile Diktaturen oder ökonomisch Abhängige zurück.

Öffentlich-rechtliche und andere Organe des real existierenden Pluralismus wie die taz, die sonst erheblichen Anteil daran haben, so zu tun, als ließe sich ernsthaft über solche Befreiungskriege diskutieren, reichten im Laufe der Zeit Dutzende von gut recherchierten Dokumentationen über die eisigen Strategien der Golfkrieger und ihre Folgen nach. Gleichzeitig blieb das moralisierende Pro und Contra über militärische Interventionen auf dem Balkan davon völlig unbeeindruckt. Niemand fragte, was die USA hier humanitär zu suchen hätten - wo sie doch anderswo Dutzende völkermordlustige Diktatoren unter Vertrag haben. Komischerweise kam auch niemand auf die Idee, den perfiden Krieg, den Jelzin zur selben Zeit gegen Tschetschenien führte, moralisch zu diskutieren. Die Bellizisten und die Pazifisten führten einen sauberen Krieg um ethische Grundsätze: Menschen mit Waffen retten - ja oder nein. Im erhabenen Milieu der Moral spielt keine Rolle, ob das die entscheidende Frage sei, oder die Debatte nicht vielmehr dazu diente, wirksamere, aber im interventionsalliierten Verstand strategisch uninteressante Mittel in Erwägung zu ziehen. Deshalb interessierte auch niemanden, warum nur der Balkan in den Genuß eines herbeigebombten Friedens kommen sollte. Tibet wäre doch auch denkbar. Für Tschetschenien wurde nicht mal der diplomatische Dienstweg bemüht. »Unser Freund Boris«, sprach der Kanzler bloß und traf zur Abwechslung den Nagel auf den Kopf. Aus dem blutüberströmten Ruanda konnten Hilfstruppen gar nicht schnell genug ausgeflogen werden. Ost-Timor ist natürlich ein bißchen weit weg, aber stehen in Palästina nicht noch ein Paar UNO-Resolutionen seit langem offen?

Enzensberger hatte die Argumente geschickt »deutsch« gewürzt. Moral plus das gewisse deutsche Problem (Sie wissen schon) sind seitdem als Jas und Neins gleichermaßen unentbehrlich. Die Formel »Saddam = Hitler« unterschlug elegant, daß auch dieser durchgeknallte Potentat allein ein Kind der westlichen Wertegemeinschaft ist - hochgerüstet und -geschätzt im Kampf gegen den abtrünnigen Iran - weshalb man seine Munitionslager so genau zu kennen glaubte. Allerdings habe ich nie verstanden, warum seinen angeblichen ABC-Fabriken vergleichsweise nur Knallfrösche entfleuchten. Bagatellen - schließlich legte Enzensbergers Relativitätstheorie »Saddam = Hitler« die Hoffnung nahe, mit ein paar deutschen Milliarden werde am Golf von den Alliierten endlich die deutsche Vergangenheit in tätiger Reue bewältigt. Natürlich wurde auch anläßlich des hiesigen Balkandebattenscharmützels der »deutsche« Joker gezogen. Diesmal spielten die Neins das As aus: Gerade die Deutschen dürfen hier nicht ...

Beim dritten Golfkrieg kürzlich traten die Neins als Legalisten auf (gegen die völkerrechtswidrigen US-Jas). Aber da mittlerweile jedes Frühstücksblatt genüßlich darüber spekuliert, welchen Preis Bagdad wohl für das Gelutsche an Clintons Schwanz bezahlen muß, bot der Golf frommen Tönen keinen Kirchenraum mehr. Außerdem hatten die Jas und die Neins sich in der Zwischenzeit an einem neuen Konflikt formiert - weiterhin ganz schwer deutsch: Nachdem es im Vorjahr Günter Grass beinahe gelungen wäre, über Deutschland moralisch neu abstimmen zu lassen, stand Martin Walser unter Druck. Seine Rede zur Entgegennahme des Friedenspreises wurde umgehend zur Rede des Jahres gekürt. Mit Recht. Wann hätte sich je ein Schriftsteller getraut, vor einer Vollversammlung internationaler Geistesdirektoren seinen Glaubenswirrwarr herauszunuscheln? Immerhin so gekonnt genuschelt, daß die Jas und die Neins sich sogleich in eine heftige »Normalisierungsdebatte« verstrickten und mit schwerster Intelligenzmunition ins Gefecht zogen: Wieviel Schande braucht und verträgt ein Deutscher? Zwischen ewig und innerlich - so ungefähr das Zwischenergebnis. Ein aus glücklich fernem Ausland Lauschender mußte denken, dieses Land sei erfüllt vom heiseren Geheule der Unerlösten, die um Vergebung winseln und alles dafür gäben, den schwer erkämpften Standort der Armen dieser Welt zu öffnen. Ich muß im schalldichten Exil leben. Nie habe ich je einen einzigen aus der Generation der Täter getroffen, der auch nur die Höflichkeit der Scham erwogen hätte. Außer ein paar eisigen diplomatischen Beileidsformeln und zwangsläufigen Peanuts-Milliarden ist keine Regung aktenkundig. Die deutsche Leistung, binnen weniger Jahre Europa in einen nie erlebten Trümmerhaufen mit über 50 Millionen Leichen zu verwandeln, wiederholt sich im geschlossenen Übergang des Rudels zur Normalität. Und wir Nachgeborenen waren auch nicht schlecht: die Wahrheitssuche über unsere Väter und Großväter kapitulierte schon vor der Gesinnungsshow der Wehrmacht. Nur ein Großmeister aus Deutschland konnte in einem makabren Schattenspiel noch einen Schritt weitergehen: die nie gefühlte Schande vor inexistenten Gewissenssoldaten in die Deckung einer Normalisierungsdebatte zu bringen.

Walser wäre nicht Walser, hätte er seine Effekte nicht kalkuliert. Zuverlässig wartet ein Publikum, das es nicht wissen will und die Kränkung der Orientierungslosigkeit durch heftiges moralisches Engagement kompensiert, diesseits aller etwas kostspieligeren Zweifel - und strikt dagegen. Die Jas soufflieren als moralischer Braintrust einer moralfreien Realpolitik, und die Neins halten ihre Kritik streng in den Grenzen eines lauen humanistischen Gemüts. Nichts daran ist unschuldig, aber das Meiste berechenbar. Bis »Mehmet« in München das Rennen machte, gab es mindestens fünf fast baugleiche Fälle im Land: minderjährige Türken - ob in Köln, Frankfurt oder Oberhausen - verübten in kürzester Zeit Dutzende nicht ganz harmloser Straftaten. So doof wie Türken wohl zu sein haben, lassen sie sich auch noch 50 bis 60 Mal erwischen. Als »Mehmet« das Thema national monopolisierte, verschwanden die anderen sofort aus der lokalen Berichterstattung. Das Gemisch von Fremdenfeindlichkeit, Asylantenschwemme, deutschem Stammtisch, Standort und Schande-Scham-Schuld macht den Fall schwer und rief die Jas und Neins in den Zeugenstand. So fragt wenigstens keiner, warum überall dieselben verblüffend identischen »Einzelfälle« pünktlich vor der Wahl auftauchten. Das juste milieu grübelte lieber darüber, ob der in Deutschland aufgewachsene kriminelle jugendliche Ausländer eher Krimineller, eher Ausländer, eher Jugendlicher oder eher Deutscher ist. Bekanntlich hat der Freistaat Bayern die gewiß interessante Antwort nicht abgewartet. Vielleicht hätte man sonst noch den realen Sachverhalt aufgeklärt: Reporter der gossennahen Volkspresse hatten auffällige Türkenkinder bei ihren bösen Streichen beobachtet und darüber ganzseitig berichtet. Und im Glanz des Ruhmes vergaßen die halbstarken Lümmel rasch den Preis: ihre Kriminalisierung. Interessanterweise war darüber nichts zu lesen. Das juste milieu - vertieft in humanistische Spekulationen - belohnt sich einmal mehr mit der Gnade der Moral: Sie erspart ihnen den Anblick einer Realität, die sich in folgelosen Ja/Nein-Spielen zwar nicht verstehen, aber deshalb ertragen läßt.

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