Nichts stört den Chasan am Schabbat beim Gebet. Nicht das Rascheln in den Gebetsbüchern, nicht das Wispern der Gläubigen, denen der Vorbeter seinen Rücken zuwendet. Im Singsang, geschwind, mit tiefer Stimme folgt er den hebräischen Zeichen im Büchlein vor sich. Nur ein Büchlein ist´s, ein billiger Nachdruck. Eine echte Thorarolle aus feinem Pergament, handgeschrieben, das wär´s. Doch solch eine Rolle - für gläubige Juden ein Symbol Gottes - kostet mindestens 20.000 Euro. Manchmal lässt sich Glauben beziffern.
Die jüdische Gemeinde in Frankfurt an der Oder ist noch im Entstehen - in aller Abgeschiedenheit und aller Ruhe. Selten wurden Juden hier von Rechten beschimpft, selten waren Hakenkreuze auf ihre Briefkästen gekritzelt. Doch im rechtsradikalen Milieu rumort es: Am 9. November, dem Jahrestag der Pogromnacht, störten Rechte die Gedenkfeier an die Opfer der Hitlerdiktatur; und nun will die NPD zum 1. März eine Ortsgruppe gründen. Für die Gläubigen ist dies wie ein fernes Grollen aus einer bösen Zeit.
Dabei richtet sich die Gemeinde gerade ein, acht Jahre ist sie alt und etliches noch provisorisch: Der Rabbi kommt alle paar Wochen aus Berlin; es gibt noch keinen Kindergarten, keine Synagoge und keinen Friedhof, nur einen alten, aber der liegt in Slubice, dem polnischen Teil Frankfurts - die russischen Juden der Gemeinde bräuchten ein Visum, um dorthin zu gehen. Auch das Gemeindehaus gehört ihr nicht; das ehemalige, kleine Schulgebäude mit Gründerzeitportal hat sie von der Stadt gepachtet.
Immerhin beherbergt es bereits einen prächtigen Saal für den Gottesdienst am Schabbat, dem Ruhetag, und eher nüchterne für die Sonntagsschule. Gerade fertig gestellt ist ein Museumsraum: Auf akkuraten, eng beschriebenen Tafeln wird die Geschichte der Gemeinde von 1294 bis zur Reichspogromnacht 1938 erzählt - eine Rekonstruktion in mattem Schwarz-Weiß. Die Neugründung 1998 ist mit einem Fotoalbum dokumentiert - halbvoll, einige Farbaufnahmen.
Wladimir Khazanov, der Vorbeter, verkörpert den Neubeginn. Er ist jung, 26, gelernter Mechaniker aus Nischni Nowgorod, Russland. Als die UdSSR zerbrach und die Synagoge in seiner Heimatstadt wieder öffnete, lernte er Hebräisch. Doch er verließ Russland, weil Übergriffe zunahmen, und Deutschland ihm, dem Juden, offenstand. Er kam und lernte, wie man einen Gottesdienst leitet - erst an einer jüdischen Hochschule in Berlin, dann in Cottbus beim dortigen Chasan. Seither leitet er das Gebet dreimal im Monat nach orthodoxem Ritus.
Es kehrt Ruhe ein - der Vorbeter spricht nun gleichmäßiger, aber nicht so bedächtig wie ein Pastor das Vaterunser. Die meisten der rund 50 Gläubigen sind alt und haben ein Leben in Russland, der Ukraine, Moldawien oder Usbekistan hinter sich.
Ohne Zuwanderung gäbe es in den neuen Bundesländern keine jüdischen Gemeinden. In der DDR hatten sich viele Juden assimiliert oder wurden wie Klaus Gysi, der Vater von Gregor Gysi, Kommunisten. In den achtziger Jahren waren nur noch 650 registriert; heute leben allein in Frankfurt wieder 500, die Hälfte hat sich der Gemeinde angeschlossen, die für viele vor allem eine soziale Anlaufstelle ist. Vor der Zeit der Nationalsozialisten wohnten über 800 Juden in der Stadt. Nur 40 überlebten Krieg und Shoa.
"Wird Deutschland ein zweites Israel", fragte die rechtspopulistische Partei DVU scheinbar besorgt, als die ersten Juden Ende der Neunziger aus Osteuropa kamen. Sie warnte vor "Masseneinwanderungen".
Auf solche Parolen reagieren Juden höchst unterschiedlich: Einige erwägen, aus Ostdeutschland wieder abzuwandern, andere halten selbst den Einzug der NPD in den Schweriner Landtag für nicht besorgniserregend. "Die meisten Leute sehen uns sowieso nicht als Juden, sondern als Russen", sagt Wladimir Khazanov. Ob das helfe, sich sicherer zu fühlen? Er weiß es nicht. "Als Fremde werden wir ja eh wahrgenommen."
Ihren Hass skandierten die Rechten am 9. November, dem Jahrestag der Pogromnacht in aller Öffentlichkeit; einer schrie "Heil Hitler", andere zertraten die Gedenkkränze. "Eine Drohgebärde. Die Nationalisten wollten zeigen, dass mit ihnen zu rechnen ist", sagt der Frankfurter Gerhard Hoffmann, ein ruhiger Mittsechziger, mit Jeans und lockerem Jackett, der im Bundesvorstand der Antifaschisten vom VVN sitzt, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. Sollte die NPD in den Stadtrat gewählt, sagt er, würden sie Gelder für rechte Jugendprojekte fordern und kritisieren, dass die jüdische Gemeinde zu viel Unterstützung erhalte.
Seit der Attacke ist die Kamera über der Eingangstür zum Gemeindehaus eingeschaltet. "Aber je mehr wir uns schützten", sagt Wladimir Khasanov, "desto gefährlicher leben wir." Der Vorsitzende der Gemeinde, Josif Vysblatt, meint: "Falls was passiert, rufen wir die Polizei, die ist ja ohnehin fast nebenan." Trotzdem sind viele Gemeindemitglieder verstört. So wenden sich manche nun gegen den geplanten Friedhof, weil sie befürchten, Rechtsradikale könnten die Gräber schänden.
Plötzlich unterbricht der Vorbeter das hebräische Gebet, dreht sich der Gemeinde zu und sagt auf Russisch: "Nun zu Seite 96", zugleich bittet er mit einer Handbewegung die Gläubigen zum Aufstehen. Sie bräuchten stets Anleitung, klagt er später. "Vor jedem Fest müssen wir ihnen erklären, was wir feiern und wie die Zeremonie abläuft." Selbst koscher kochen könnten nur Wenige. Dabei lebte einer der Kommentatoren der jüdischen Speisegesetze in der Stadt - Rabbiner Joseph ben Meir Theomin, von 1727 bis 1792. "Die Gläubigen wissen zwar, dass Fleisch und Milch zu trennen sind, aber dass man ein Schweinekotelett nicht dort hinlegt, wo Hähnchenschenkel waren, ist vielen neu."
Viele kennen das Judentum nur aus Erzählungen der Großeltern. Jiddisch sprachen bestenfalls noch die Eltern. Zwar war in der UdSSR das Judentum zugelassen, doch wer in die Synagoge ging, riskierte die Karriere. Erst heute lernen die Kinder wieder in der Sonntagsschule, wie ihre Vorfahren die Lichterfeier Chanukka oder das Maskenfest Purim begingen.
Während der Chasan tief versunken betet, spielt der kleine Leon, tobt und ruckelt dabei an den dunklen Holzbänken. Niemanden stört´s. Als Leons Kippa verrutscht, reicht es dem Vater Alexander Rotenburg. Der Junge muss nun am Rand sitzen. Bald schon ist Leon verschwunden, hinter die Trennwand auf die linke Seite des Raumes, dorthin, wo die Mutter Larissa mit den anderen Frauen sitzt.
Nach 45 Minuten Gebet spricht der Chasan einen letzten Satz, wendet sich den Männern zu, gibt jedem die Hand - "Schabbat, Schalom", "Schabbat, Schalom". Nun geht´s ins Erdgeschoss zum zweiten Teil des Gottesdienstes. Auf Russisch liest er aus der jüdischen Geschichte vor, nicht aus einem Buch, sondern von Ausdrucken aus dem Internet. Die Gemeinde isst gefüllten, salzigen Fisch, probiert vom warmen Zopfbrot und nippt am süßen, koscheren Wein. Khazanov liest, man plaudert.
Rotenburgs kommen aus Tschernowzy im Westen der Ukraine. Larissa unterrichtete; Alexander arbeitete als Programmierer in einem Unternehmen, das Maschinen für die Erdölförderung im Irak herstellte. Hin und wieder ging man in die neu eröffnete Synagoge. Pogrome gab es seit Jahrzehnten nicht mehr.
Man lebte gut bis US-Präsident Bill Clinton ein Embargo über Saddams Staat durchsetzte. Das Unternehmen, in dem Alexander angestellt war, verlor Handelspartner. Statt Lohn erhielt er einen Sack Zucker. Larissa wurde bereits mal mit Socken, mal mit einer Kiste Wodka bezahlt. Irgendwann standen sie vor der Wahl: Miete zahlen oder Essen kaufen.
Sie verließen die Ukraine. In Deutschland wurden sie kurz in der brandenburgischen Grenzstadt Peitz untergebracht. Dann ging´s nach Frankfurt, wo man über benachbarte Juden von der Gemeinde hörte.
"Die erste Zeit war furchtbar", erzählt Larissa. Rotenburgs verstanden den Mietvertrag nicht, fanden keine Arbeit und Larissa war hochschwanger - mit Leon. Sie bereute. Aber zurück konnten sie nicht: Die Wohnung war weg, der Arbeitsplatz neu besetzt. Heute arbeitet Larissa als Pflegerin. Freunde hat sie wohl gefunden, aber letztlich sei ihr die hiesige Mentalität fremd geblieben. "Erst Leon wird sich hier wohl zu Hause fühlen." Ob sie seit dem Anschlag der Rechten, Angst um ihn habe? "Ja, ein wenig schon." Doch sie wisse nicht, wie sie reagieren solle.
Nur die Gemeinde ist den Rotenburgs eine Heimat geworden. Alexander leitet die Computer-Sonntagsschule. Larissa singt im Chor und unterrichtet die Jüngsten. "Ich bin nicht so gläubig", sagt sie, "aber die Gemeinde ist für mich ein Weg zu meiner Kultur, zur Geschichte, zu meinem Volk."
Aus ihrer Sicht gibt es zwischen der ersten, über Jahrhunderte gewachsenen Gemeinde, die bis 1938 bestand, und der neuen, zufällig zusammen gewürfelten von 1998 wohl eine zeitliche Lücke, aber keinen Kulturbruch. "Die Menschen der alten Gemeinde sind keine Fremden für uns. Sie gehören zu uns. Man muss sie nicht persönlich gekannt haben. Oder kennen die Deutschen etwa Goethe persönlich?"
Nach zwei Stunden endet die Feier. Rotenburgs verschwinden in die stille Nacht. Angst vor einem Übergriff haben sie nicht. Und wenn Wladimir Khazanov später die Tür schließt, ist die Kamera schon lange aus. In einigen Wochen wird er zum Schabbat endlich eine richtige Thora entrollen - ein weiteres Stück Judentum hält damit Einzug. Manchmal träumt Khazanov bereits, wie es wäre, als Rabbi das Gebet in Frankfurt zu leiten. Noch aber verdient er sein Geld mal als Dolmetscher, mal als Friedhofsgärtner.
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