Sie ist nackt, die Kanzlerin. Im Futurium allerdings, einem schicken Neubau für zukunftsweisenden Wissenschafts- und Erfindergeist am Berliner Hauptbahnhof, scheint das erst mal niemand zu bemerken. Angela Merkel präsentiert das lange erwartete „Klimaschutzprogramm 2030“. Die Kollegen vom Klimakabinett lächeln brav. Den Journalisten wird das Eckpunkte-Papier bis zum Ende des Auftritts vorenthalten. So kann Merkel vor allen Leuten unbehelligt kundtun: „Wenn mich etwas beeindruckt – das sage ich jetzt als Naturwissenschaftlerin –, dann ist es das, was Greta Thunberg sagt: ‚Unite behind the science.‘“ Und zugleich ihren Zuhörern ein Programm unterjubeln, welches das genaue Gegenteil ist: „Mutlos“ seien die beschlossenen Eckpunkte für den deutschen Klimaschutz bis 2030, befinden Wissenschaftler später, und: reines „Politikversagen“.
Doch nicht nur die „scientists“, auch viele Bürger durchschauen der Kanzlerin neue Kleider. Hunderttausende laufen zur gleichen Stunde auf der Straße des 17. Juni und demonstrieren unter strahlend blauem Himmel für mehr Klimaschutz. Was die Leute auf der Straße fassungslos macht: Merkel lobt die Demonstranten, lobt Greta, hat für alles Verständnis. Es ist wie eine brutale Umarmung. Selten war der Widerspruch zwischen Schein und Wirklichkeit so eklatant.
Vielen wird dieser Tage bewusst, wie sehr die Bundesregierung seit Jahren in einer Märchenwelt lebt, in der sie glaubt, noch genügend Zeit zu haben, um Deutschland auf einen emissionsarmen Pfad und sanft in ein fossilfreies Zeitalter zu bringen. Leider stimmt daran – nichts. Die Wissenschaft gibt uns Junkies noch 30 Jahre, um den Entzug von Kohle, Öl und Gas zu schaffen und auf Null-Emissionen zu kommen.
Mit jedem Monat, in dem nicht gehandelt wird, steigen die deutschen Klimaschulden. Das Klimaziel 2020: bereits verfehlt. Deutschland liegt mit rund 100 Millionen Tonnen CO₂ jährlich über dem Limit – das ist mehr als der CO₂-Ausstoß von Belgien. Die nächste Etappe wird dadurch noch heikler. Bis 2030 will man jetzt laut Klimaschutzprogramm um 300 Millionen Tonnen pro Jahr reduzieren – etwa so viel, wie die gesamte deutsche Energiewirtschaft ausstößt. Damit müsste die Regierung in den nächsten zehn Jahren mehr schaffen als in den letzten 30 Jahren.
Doch die von der Regierung vorgesehenen Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele reichen hinten und vorn nicht: „Wenn wir von den heutigen 800 Millionen bis 2050 auf null runterwollen, müssen wir ab sofort um 25 bis 40 Millionen Tonnen pro Jahr reduzieren“, sagt Anders Levermann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Das Eckpunktepapier hält er für „klares Politikversagen“.
„So gut wie keine Lenkungswirkung“
Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) ist, wie viele andere, besonders vom Einstiegspreis für CO₂ enttäuscht, den das Klimakabinett für einen zukünftigen Emissionshandel für die Bereiche Verkehr und Wärme, also Heizung, beschlossen hat: „Bei einem Preis von zehn Euro die Tonne gibt so gut wie keine Lenkungswirkung.“ Insgesamt würden dabei wohl nur gut drei Millionen Tonnen eingespart. Und selbst das könnte sich noch verringern, wenn die Pendlerpauschale angehoben wird. Der geplante Anstieg bis auf 60 Euro pro Tonne CO₂ im Jahr 2026 könne das zwar noch ändern – aber dann würde die Zeit knapp.
Ob der Emissionshandel an sich ein cleveres Instrument ist, um Deutschlands Klimaschulden schnell abzutragen, ist ebenfalls umstritten. Die SPD plädierte vor wenigen Wochen noch für eine CO₂-Steuer. Zwischendurch gab es Gerüchte um ein „Mischmodell“. Am Ende setzte sich die CDU durch – wie bei fast allen Punkten.
Claudia Kemfert hat eine Erklärung dafür: „Es gibt eine vorherrschende Meinung, dass gemäß neoklassischer ökonomischer Theorie marktbasierte Instrumente die effizienteste Lösung seien.“ Die Wirtschaft präferiere marktbasierte Instrumente, die ihr weniger „wehtun“. Kemfert bezweifelt, dass Deutschland innerhalb weniger Monate einen nationalen Emissionshandel aufbauen könne: „So etwas dauert erfahrungsgemäß bis zu drei Jahre.“
Andere Ökonomen wie Christian Flachsland von der Hertie School of Governance sehen das nicht so eng, halten aber sowohl bei der Steuer als auch beim Emissionshandel den Einstiegspreis für entscheidend. „Ein sinnvoller CO₂-Preispfad würde bei 50 Euro pro Tonne CO₂ beginnen und bis 2030 auf 130 Euro pro Tonne CO₂ steigen“, so Flachsland. Mit dem nun geplanten Einstieg von zehn Euro habe der CO₂-Preis nur eine Alibifunktion.
Wie viel Einsparung der Rest des Klimapakets bringt, ist ebenfalls völlig ungewiss. Der Grund dafür sind fehlende Zahlen. Der größte Einsparbatzen soll über den Kohleausstieg gelingen, allein die drei größten deutschen Braunkohlekraftwerke – Neurath, Niederaußem und Jänschwalde – stoßen zusammen fast 80 Millionen Tonnen CO₂ aus. Ein schnellerer Kohleausstieg würde also leicht zu erreichende Ziele möglich machen.
Die zweitgrößte Einsparmasse soll der Ausbau von Wind- und Sonnenenergie bringen. Allerdings ist hier die Ausgangssituation fatal, was sich diese Regierung anrechnen lassen muss: Zwar feierten die erneuerbaren Energien immer wieder neue Rekorde, zuletzt stieg der Anteil am Stromsektor auf über 45 Prozent, mehr als alle Braun- und Steinkohlekraftwerke zusammen. Doch der Zubau an Windrädern an Land sank in diesem Jahr auf den niedrigsten Stand seit dem Jahr 2000. Der Grund sind laut Branchenverbänden strengere Abstandsregelungen, lange Genehmigungsverfahren und Vorschriften der Deutschen Flugsicherung. Damit die Klimaziele 2030 geschafft werden, müsste der erlaubte Zubau bei Wind an Land auf 4,7 Gigawatt aufgestockt werden: Derzeit sind es aber nur 2,9 Gigawatt. Immerhin wurde die Begrenzung des Zubaus der Fotovolatik endlich abgeschafft. Doch gilt auch hier: Das Eckpunktepapier ist unzureichend – selbst beim Vorzeigeprojekt Energiewende.
Kommentare 9
was manche "erbärmlich" und als bloß-stellung(nacktheit) bewerten,
wird von der regierung als "verantwortungs-übernahme" propagiert.
man sollte wissen: die regierung nimmt rücksichten ernst:
auf die ängste von geschäfte-machern und noch-einkommens-beziehern.
diese nimmt sie ernster als die bedrohung deutschlands
durch die klima-katastrophe.
dafür hat sie das mandat der wähler,
nicht das der aktivisten.
Mich würde eher interessieren, warum sie das macht. Sie hat ja eigentlich nichts mehr zu verlieren. Das hat sie ja auch angedeutet.
Ich denke: Mehr ging eben nicht. Ich würde da schon noch paar mehr Leute nackig machen.
Es gibt viele Möglichkeiten in der Politik sein Gesicht zu verlieren, wie uns die Geschichte lehrt. Auf dem Umweltgipfel der "Vereinten Nationen"? vom 23. September 2019, bei den die globalen Lebensgrundlagen für Mensch, Tier und Natur auf dem Blauen Planeten Erde betreffenden Umweltpolitik sein Gesicht zu verlieren, kann ja vielleicht auch bedeuten wieder besseren Wissen vorsätzlich unverantwortlich gegenüber Mensch, Tier und Natur auf dem Blauen Planeten gehandelt zu haben.
Man mag an Frau Merkel und ihrer Regierung rummäkeln, daß die Beschlüsse von letzter Woche dem "Klima" nicht helfen, ABER: ihren Klassenauftrag haben sie erfüllt ! Und das ändert unsere Mäkelei auch nicht, aber in wessen Sinn diese Regierung arbeitet muß laut und deutlich gesagt werden. Ansonsten ko0mmen wir über die die individuelle (neoliberale) moralinsaure Konsumverzichtsschwätzerei nicht hinaus.
Das geht aber nun gar nicht, die gewählte deutsche Kanzlerin dermaßen zu kritisieren. Schließlich ist sie doch akademische Physikerin, kennt sich also in Sachen Klima- und Umweltschutz bestens aus. Zudem war sie auch Umweltschutzministerin und hat sich furchtlos für den Umweltschutz eingesetzt und z.B. radioaktiven Müll in der Asse für Ewigkeiten sicher entsorgt. Und es war auch Frau Merkel, die gegen vielerlei Widerstände den Atomausstieg durchgesetzt hat. Sie war sich auch nicht zu schade, sich ganz persönlich vor Ort vom tatsächlichen Schmelzen des Polareises zu überzeugen, was ihr vollkommen zu Recht den Titel "Klimakanzleri " einbrachte. Sie war es doch, die dem Pariser Klimaabkommen zum internationalen Durchbruch verholfen hat.
Und nun hat sie ein Klimapaket durchgeboxt, um das uns andere Staaten nur beneiden können. Dies hat sie bei den Vereinten Nationen mit großem Erfolg und unter großer Anerkennung vorgestellt. Und selbst der Journalist Stephan Detjen des ansonsten doch sehr regierungskritischen Deutschlandfunks musste neidlos zugeben, dass die Klimapolitik der Kanzlerin in New York wegen ihrer Authentizität und Glaubwürdigkeit viel Lob und Anerkennung fand. Dies zeigte sich symbolisch auch beim Treffen der Kanzlerin mit Greta Thunberg.
Zwei starke Frauen für einen starken Klimaschutz!
Übrigens: Die Kanzlerin ist nicht erst jetzt nackt, sie war es schon lange, zum Beispiel 2007, wie beiliegender Text zeigt!
https://www.blogsgesang.de/2007/02/08/die-nackte-kanzlerin/
Ich versuche, Ihren Beitrag ironisch einzuschätzen. Denn am nacktesten zeigte sie sich eben gerade im Gespräch mit der jungen Greta Thunberg. Nicht nur in ihrer Körperhaltung im Vergleich mit Greta.
Bekannt ist, dass Frau Merkel der jungen Frau Greta die Entdeckung des Mondes erklärte und dies in ihrer üblichen bla-bla Sprachqualität.
Das die Zukunft nicht umsonst zu haben ist, ist bereits auf dem Mond bekannt. Dass wir aber die Vergangenheit auch zu bezahlen haben, und zwar wie das so ist, besonders teuer, weil die wachsenden Schäden auch wachsende Geldsummen kosten, das hat Frau Merkel als Umweltministerin nicht bemerkt. Deshalb finden wir von ihrem tatsächlichen Wirken keine Spuren.
Grundsätzlich sind im Umwelt- und Klimaschutz auch die Kriege zu beziffern, was zugunsten der Kriegsinteressierten leider nirgendwo eingepreist wird! Das würde heißen, Friedenspolitik, aber keine globale, aggressiv sanktionierende Wirtschaftspolitik. Darüber haben die Mondbesucher auch nicht diskutiert, denn ihre Reisen sind auch kein Klimaplus.
****, zu schön!
Erwärmung der Erde, Anstieg der Weltmeere, Untergang erst der Küstenstädte, dann ganzer Regionen, jetzt schon in Asien, demnächst auch hier. Die Antwort der Regierung in ihrem „Klimapaket“, zusammengefasst in vier Worten: Wir lassen euch absaufen. Hauptsache, der Profit überlebt. Haben die auf den Sterbe-Etat Gesetzten nicht jedes Recht zu rebellieren, zu boykottieren, zu sabotieren, zu revolutionieren?
„Sollen Sie doch Kuchen essen“, sagte Marie Antoinette, Frau des französischen Königs, als die Bevölkerung hungerte, weil sie kein Brot hatte. Wenige Jahre später war sie durch die französische Revolution nicht nur politisch tot (Guillotine 1793, 9 Monate nach ihrem Mann). Zynismus gegenüber dem Überlebensinteresse der Bevölkerung, diese gegen alle gerichtete Kränkung, war in der Geschichte schon öfters Auslöser für sehr grundlegende gesellschaftliche Veränderungen. Und es ist ja nicht nur beim Klima so: Die einen haben das Recht, Millionen zu machen und die Lebensgrundlagen aller zu zerstören, die große Mehrheit hat das Recht, krank gemacht zu werden und unterzugehen. Was folgt daraus? „Wo der Staat in einem kapitalistischen System nichts weiter ist, als die Vollzugsinstanz der Wirtschaft gegen den Menschen, ist es nicht mehr als das Gebot der Selbstverteidigung und Notwehr, das von den Betroffenen wahrgenommen wird, wenn sie der Gewalt, sei es auch mit noch so unzulänglichen Mitteln, entgegentreten“ (SPK – Aus der Krankheit eine Waffe machen).