Im Widerstand Vor 70 Jahren bringen Elise und Otto Hampel aus Berlin-Wedding monatelang Post gegen Hitler auf den Weg, werfen sie selbst in fremde Briefkästen und gehen eilig davon
Am 8. Dezember 1942 erhebt Landgerichtsrat Dr. Kurt Emmerich als Vertreter des Oberreichsanwalts beim Volksgerichtshof Anklage gegen ein Arbeiterehepaar aus dem Berliner Bezirk Wedding. Elise und Otto Hampel haben vom September 1940 bis zu ihrer Verhaftung im Oktober 1942 mehr als 200 handgeschriebene Postkarten und Flugzettel mit ungelenken, aber eindeutigen Aufrufen zum Widerstand verteilt: „Es ist dringend notwendig, dass vernünftige deutschen den Kampf gegen dass gegenwärtige Hitler Regiem beginnen... Im Sinne der Gerechtigkeit gibt es nur eins Nieder mit dem schurkischen Hitler Regiem!“
Die mutige Tat der Hampels lieferte 1946/47 die Vorlage für Hans Falladas Roman Jeder stirbt für sich allein. Johannes R. Becher, der als Vorsitzender des Kulturbunds zur
rbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands Autoren für den antifaschistischen Neubeginn warb, machte den Erfolgsschriftsteller aus der Weimarer Republik im Oktober 1945 mit dem Stoff vertraut, aber der zögerte zunächst. Die NS-Zeit hatte er nach kurzzeitiger Haft im Frühjahr 1933 zwischen Anpassung, Resignation und beständiger Furcht vor erneuten Repressionen im mecklenburgischen Carwitz überlebt. Schließlich nahm sich Fallada – mit großzügigen Vorschüssen bedacht – der Sache an. Innerhalb weniger Wochen schrieb der schwer kranke Autor im Herbst 1946 eine düstere Geschichte von Widerstand, Angst und Verrat im Milieu der kleinen Leute. Die Publikation sollte er nicht mehr erleben: Fallada starb im Februar 1947.Drei Monate später erschien Jeder stirbt für sich allein im neu gegründeten Aufbau-Verlag. Der Roman wurde sowohl in Ost- als auch Westdeutschland gelesen und mehrfach verfilmt: Von Falk Harnack für den SFB, von der DEFA mit Erwin Geschonneck und Wolfgang Kieling und in einer westdeutschen Kinofassung mit Hildegard Knef und Carl Raddatz in den Hauptrollen. In neuen Übersetzungen avancierte das Buch nach mehr als 60 Jahren auch zum internationalen Bestseller mit Auflagen in England, Frankreich, Israel und den Vereinigten Staaten.Püschels TäterprofilWas fasziniert am Fall von Elise und Otto Hampel, die bei Fallada die Namen Anna und Otto Quangel tragen? Beide sind Mitläufer einer Diktatur, die sich plötzlich zum Widerstand entschließen. Die Akten der Gestapo und des Volksgerichtshofs, die in Teilen auch Fallada vorlagen, geben Auskunft über ihre Lebensläufe. Otto Hampel, 1897 bei Posen geboren, verdingt sich nach vorzeitigem Abbruch der Volksschule als Hilfsarbeiter, bis er 1916 als Soldat an die Westfront kommandiert wird. Anders als vielen Bürgersöhnen aus seiner Generation fällt ihm nach Kriegsende die Rückkehr ins zivile Leben nicht schwer. Im Kabelwerk von Siemens-Schuckart in Berlin-Gartenfeld findet er 1923 eine Anstellung – für fast 20 Jahre, bis zu seiner Verhaftung durch die Gestapo. Am 23. Januar 1937 heiratet er die 33-jährige Elise Lemme aus Bismark bei Stendal. Auch sie hat die Volksschule abgebrochen und danach als Haushälterin gearbeitet. Die frisch Vermählten beziehen eine Wohnung in der Amsterdamer Str. 10 im Wedding – ihre Ehe bleibt kinderlos. Der Diktatur zollen die Hampels durch Mitgliedschaft in nationalsozialistischen Organisationen Tribut: Otto als Blockwalter in der Deutschen Arbeitsfront, Elise in gleicher Funktion als Mitglied der NS-Frauenschaft. Der Tod ihres jüngeren Bruders Kurt, der im Juni 1940 als Wehrmachtssoldat beim Feldzug gegen Frankreich stirbt, wird für die Hampels zum Schlüsselerlebnis. „Durch den Tod meines Schwagers... vollzog sich bei mir eine Wandlung. Ich stellte mich darauf negativ zum Staate ein“, gibt Otto Hampel in einer ersten Vernehmung am 20. Oktober 1942 zu Protokoll. Um den Sinneswandel glaubhafter zu machen, ist es bei Hans Fallada der Tod des einzigen Sohns, der die Eheleute in den Widerstand führt.Am 2. September 1940, als das NS-Regime durch den Kriegsverlauf im Zenit seiner Popularität steht, taucht erstmals in der Müllerstraße 174 eine handgeschriebene Postkarte im Wedding auf. Die Hampels hoffen, dass ihre Botschaften Verbreitung finden, doch die meisten der in Hausfluren und Treppenhäusern abgelegten Schreiben und Flugzettel werden von eifrigen oder furchtsamen Volksgenossen zur Polizei getragen. Anhand der Fundorte erstellt Kriminalsekretär Willy Püschel ein Täterprofil, das mit jeder Karte und jedem Flugzettel an Kontur gewinnt. Püschel gilt als erfahrener Kriminalist, hat 1924 bei der Schutzpolizei in Sachsen begonnen und wechselt zehn Jahre später zur Kriminalpolizei. Nach Kriegsbeginn 1939 wird er zur Berliner Gestapo versetzt, die ihren Sitz in der Burgstraße 28 hinter dem Hackeschen Markt hat, und ist im Referat IV A 1 für „Kriegsdelikte“ und „Feindpropaganda“ zuständig.Die meisten Postkarten verteilen die Hampels in ihrem Kiez rund um den Leopoldplatz, doch auch im Prenzlauer Berg, in Moabit und Schöneberg tauchen ihre Aufrufe auf und werden immer direkter: „Es ist dringend notwendig dass vernünftige Deutschen sich endlich einreihen im Kampfe gegen die kriegsschuldige Hitler Regierung Bande!“ Als würden sie die Furcht ihrer Landsleute vor der Gestapo ahnen, schreiben sie: „Keine Angst haben wir vor Himmlers Bestien Polizei! Ohne uns sind diese Machtlos.“ Erst eine Denunziation liefert die Hampels der Gestapo aus. Am 27. September 1942, einem Sonntag, beobachtete die 64-jährige Hausfrau Gertrud Waschke, wie ein Mann in ihrem Haus, Eisenacher Str. 122, eine Karte ablegt. Waschke alarmiert die Polizei, die umgehend die Personalien der Eheleute Hampel aufnimmt. Nach weiteren Ermittlungen verhaftet Kriminalsekretär Püschel am 20. Oktober Otto Hampel an seinem Arbeitsplatz – noch am gleichen Tag Elise Hampel in der Wohnung Amsterdamer Straße. Bereits im ersten Verhör gestehen die Eheleute. „Mein Ehemann ist nicht mehr schuldig als ich, es war unser gemeinsames Werk“, sagt Elise Hampel aus. Otto Hampel versucht, seine Frau zu schützen, indem er die Schuld auf sich nimmt. Nach einer Woche legt Kriminalsekretär Püschel seinen Bericht vor: „Durch die Festnahme der Eheleute Hampel ist zwei üblen Staatsgegnern das Handwerk gelegt worden... Die Tendenz aller Hetzschriften beweist ganz eindeutig, dass die Eheleute Hampel durch die Verbreitung das Volk gegen Führer und Staat aufwiegeln wollten. Sie glaubten, auf diese Weise den von ihnen herbeigewünschten Sturz des nationalsozialistischen Regimes begünstigen zu können.“ Die Motive der Hampels bleiben dem Kriminalisten unbegreiflich: „Das Verhalten der Eheleute Hampel ist unverständlich, da sie in geordneten Verhältnissen leben und der Ehemann Hampel ein gutes Einkommen hat.“Keine GnadeAm 22. Januar 1943, wenige Tage vor der Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad, beginnt die Verhandlung vor dem Volksgerichtshof in der Bellevuestraße. Sie hat keine vier Stunden gedauert, als der 2. Senat unter Vorsitz von Dr. Günther Löhrmann Otto und Elise Hampel „wegen Zersetzung der Wehrkraft in Verbindung mit Vorbereitung zum Hochverrat und landesverräterischer Feindbegünstigung“ zum Tode verurteilt. In den folgenden Wochen bitten die Hampels wie auch ihre Angehörigen schriftlich um Gnade. Aus Sorge um das eigene Leben zerbricht ihre Solidarität. In Schreiben an den Oberreichsanwalt beschuldigen sich Otto und Elise gegenseitig, durch den jeweils anderen zu den Taten angestiftet worden zu sein. Reichsjustizminister Otto Thierack lehnt sämtliche Gnadengesuche ab. Am 29. März verlangt er vom Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof, „mit größter Beschleunigung das Weitere zu veranlassen“. So werden Otto und Elise Hampel am 8. April 1943 in Plötzensee durch das Fallbeil hingerichtet. „Von der Vorführung bis zur Vollzugsmeldung“, wie es im Protokoll heißt, dauert die Exekution von Otto Hampel 14 und von Elise Hampel 16 Sekunden. Ihre Leichen wandern ins Anatomische Institut der Charité.
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