Fünf Jahre nach dem Kopenhagener Weltsozialgipfel der UNO hat der "Bericht über die menschliche Entwicklung 2000", herausgegeben vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP), einen ernüchternden Zustand konstatiert: Eine Mehrheit der Weltbevölkerung bleibt von jedweder Prosperität ausgeschlossen. 1,2 Milliarden Menschen leben mit weniger als einem Dollar pro Tag - drei Milliarden mit weniger als zwei. Sie teilen sich die Brosamen, die von der großen Festtafel des Wohlstands im Norden herunter fallen. Die Globalisierung beschleunigt die Zirkulation von Waren, Informationen und Kapital erheblich - aber sie dient allein denen, die in diesem Verbund am besten situiert sind, konstatiert der Report und kann sich vom Genfer UN-Sozialgipfel in der vergangenen Woche bestätigt fühlen.
Kehrseite einer Welt der Sieger ist ein Planet der Besiegten - eine Welt, in der die "Globalen Fakten des Lebens" ( s. unten) darauf hinauslaufen, ein menschenwürdiges Leben zu verhindern.
WÜRDE
1,2 Millionen Frauen sind aus sozialen Gründen gezwungen, ihre Familien zu verlassen und als Prostituierte zu arbeitenNoori, 30 Jahre, geschieden, zwei Kinder, Prostituierte im Quartier Chaud an der Peripherie von Delhi. Sie verdient umgerechnet etwa 100 DM im Monat und liegt damit deutlich über dem Durchschnittseinkommen indischer Frauen.
"Ich komme aus einem südindischen Dorf und wurde mit 13 verheiratet, bin aber inzwischen wieder geschieden, weil mein Mann Alkoholiker war. Unser einziges gemeinsames Kind ist kurz nach der Geburt gestorben. Zunächst arbeitete ich in einer Seidenfabrik und verdiente pro Tag 32 Rupien (etwa 1,50 Mark - die Red.). Als ich gerade 15 geworden war, schlug mir eine Kollegin vor, nach Delhi in ein Bordell zu gehen. Ich war einverstanden, da ich gar keine andere Wahl hatte. Zu diesem Zeitpunkt musste ich meine gesamte Familie ernähren - meine Mutter, vier Schwestern und zwei Brüder. Mein Vater starb, als ich noch ein kleines Mädchen war. Ich wusste absolut nichts über das Leben einer Prostituierten, nichts über Sexualität oder den Umgang mit Präservativen, bildete mir aber ein, dass in Delhi viel mehr Geld zu verdienen wäre - was auch zutraf, nur viel mehr war es nicht. Inzwischen lebe ich mit 30 anderen Frauen, von denen die meisten jünger als 20 sind, in einem Bordell. Meine beiden Töchter schicke ich auf eine Spezialschule, an der nur Kinder von Prostituierten unterrichtet werden, da man sie woanders nicht nimmt. Wer ihre Väter sind, weiß ich nicht. Natürlich nehme ich nur Kunden an, die Kondome verwenden, aber es kommt eben vor, dass sie reißen.
Meistens arbeite ich bis zwei oder drei Uhr morgens. Da immer die Gefahr besteht, sich mit Aids zu infizieren, versucht man natürlich, weniger und sicherer zu arbeiten, doch dann fehlt das Geld. Ich muss wenigstens 260 Rupien pro Nacht (zwölf Mark - die Red.) für den Lebensunterhalt im Bordell verdienen - für Wäsche, Wasser, Strom, Essen. Das ist alles teuer, obwohl ich das Zimmer mit einer Kollegin teile. Außerdem bezahle ich noch eine Unterkunft für die Kinder, die ja abends nicht hier bleiben können, wenn die Kunden kommen. Selbst habe ich niemals eine Schule besucht, aber ich will unbedingt, dass meine Töchter darauf nicht verzichten müssen. Ich will, das sie eine anständige Beschäftigung finden - das Einzige, was mich dieses Leben durchstehen lässt, ist die Sorge um die Zukunft meiner Töchter."
KINDERARBEIT
Mehr als 250 Millionen Kinder unter 14 Jahren leben oder arbeiten auf der StraßeNelson Ivachich (13) arbeitet seit zwei Jahren als "caddie", verdient ungefähr 50 Pesos im Monat (etwa 75 Mark - die Red.), wenn es nicht regnet. Er hat sechs Geschwister, wohnt in der Banlieue von Buenos Aires.
"Ich war kaum elf, als ich den Job bekam. Das hatte ich einem Nachbarn zu verdanken, der mich in diesem Club vorstellte. Es handelte sich um einen Privatclub mit mehreren Golfanlagen. Wenn es nicht regnet, arbeite ich dort freitags, samstags und sonntags. Ich bin mit dem Rad ungefähr eine halbe Stunde unterwegs und warte dann, dass der Chef die "caddies" auf die Spieler verteilt. Manchmal vergeht der ganze Tag, und du gehst ohne einen einzigen Peso nach Hause. Wenn es gut läuft, begleite ich einen oder zwei Golfspieler, trage ihre Schläger und alles, was zur Ausrüstung gehört, und muss die Bälle einsammeln. Es gibt Tage, an denen ich mehrere Runden laufe, so dass ich bestimmt 30 bis 35 Kilometer unterwegs bin. Um den gesamten Parcours abzugehen, braucht man vier Stunden. Einige Spielern, die ich schon kenne, reden mit mir, aber die meisten fragen und sagen absolut nichts und lassen dich spüren, dass es besser ist, wenn du den Mund hältst.
Anfangs habe ich manchmal 20 Pesos am Tag verdient, aber das ist vorbei, sobald Du älter wirst. Die Schule habe ich aufgegeben. Denn an den ersten Tage der Woche helfe ich in einer Fleischerei aus. Meine Mutter findet keine Arbeit, und mein Vater war früher Installateur und baute die Schwimmbassins in den Gärten der Reichen ein, aber dann wurde er krank und konnte nichts mehr verdienen. Mit dem Geld, das ich nach Hause bringe, kann meine Familie einen Teil der Miete bezahlen, der Rest wird für Lebensmittel gebraucht - manchmal verkauft mein Bruder am Sonntag Eis, das meine Mutter selbst macht. Würde ich nicht arbeiten, könnte meine Familie nicht existieren. Es gibt eben in Argentinien viel zu wenig Arbeit für die Erwachsenen."
EINKOMMEN
Bis 2008 dürfte die Zahl der Armen in Afrika noch einmal um 40 Millionen wachsenKarim Abdoul Zore aus Burkina Faso (26), ledig, Immigrant in der Republik Elfenbeinküste, er verdient als Viehtreiber fünf bis sechs Mark pro Tag, wovon er den größten Teil spart.
"Ich musste mich entschließen, mein Heimatland zu verlassen, wo ich bei meinem Bruder, seinen beiden Frauen und den sechs Kindern der Familie wohnte - wir besaßen eine Hütte mit zwei Räumen unter einem Blechdach. Es gab weder Wasser-, noch Stromanschluss. Um sich mit Wasser zu versorgen, musste man zu einer Pumpe gehen, ein Eimer kostete 35 CFA-Francs (umgerechnet 10 Pfennig - die Red.) - ich ging mit aufs Feld, aber der Boden gab nicht viel her, in dieser Gegend kannst du höchstens drei Monate im Jahr auf Regen hoffen. Das ist die Sahel-Zone, man hat kein Geld, um sich Zugtiere zu kaufen - man hat überhaupt kein Geld, wenn es nicht mehr regnet, wie das in den vergangenen Jahren passiert ist. Die Hirse reift nicht, du überlebst nur, wenn du Lebensmittel kaufen kannst oder du musst betteln. Normalerweise reicht in Burkina Faso ein Hektar eigenes Land, um davon leben zu können. Aber wenn dieser Boden nichts mehr hergibt, vertreibt er dich. Dann kommst du in eine Stadt, um dort zu arbeiten und zu wohnen, und stellst fest, ein Teller Reis mit Bohnen kostet 750 CFA (umgerechnet zwei Mark - die Red.) - wovon soll ich das bezahlen? So bin ich in Abidjan gelandet, wo ein Onkel als Viehhändler ganz gut im Geschäft ist. Ich kaufe bei den Bauern für ihn die Hammel auf, treibe sie auf den Großmarkt, verkaufe sie dort - und mein Onkel überlässt mir ein bisschen vom Erlös. So kann ich es mir leisten, mit acht anderen zusammen - das sind auch Leute meines Onkels, ein Zimmer zu halten. Kochen, Essen, Schlafen, Sex - alles spielt sich auf denselben paar Quadratmetern ab. Das ist eben so bei einem Gemeinschaftshaus, in dem es für mehr als 100 Personen nur zwölf Toiletten und ebenso viele Duschen gibt. Wenn du völlig verdreckt vom Viehmarkt kommst, musst du manchmal zwei Stunden warten.
Ich träume trotzdem davon, dass es mir einmal besser geht - ich verdiene jeden Tag etwa 2.000 CFA (fünf bis sechs Mark - die Red.) und spare den größten Teil. Ich spare, um nach Burkina Faso zurückkehren zu können, um zu heiraten, bevor ich über 30 bin. Wenn ich noch zehn Jahre warte, werde ich ein alter Mann sein - ein weinender Engel, wie sie bei uns sagen. Die Leute in Burkino Faso werden nicht alt - aber ich -, ich werde trotzdem ein petit richard".
WOHNUNG
Mehr als 300 Millionen Menschen leben in völlig unzumutbaren hygienischen VerhältnissenDaeng Chupinit. (45), zehn Kinder, lebt in den Bidonville von Bangkok. Sie stellt in Heimarbeit Blumengirlanden her und verdient an "guten Tagen" 150 Baht (zehn Mark - die Red.) pro Tag.
"Ich kam vor sechs Jahren nach Bangkok - ich stamme aus der Provinz Kamphaeng Phet, wo ich mit der Mutter, zwei Brüdern und meinen zehn Kindern in einer verfallenen Pagode wohnte. Das war auf die Dauer unerträglich, so dass ich mich irgendwann entschlossen habe, nach Bangkok zu gehen - ohne die Kinder, um dort eine neue Existenz aufzubauen. Zur Zeit lebe ich in einer Pfahlhütte, die nur fünf mal fünf Meter groß ist, weshalb ich bisher nur vier meiner Kinder nachholen konnte. Wenn es regnet - es regnet in den Monaten Mai bis Oktober jeden Nachmittag - hält das Dach aus Palmenblättern das Wasser nicht ab. Während der Regenzeit ist es wirklich sehr unangenehm, in den Bidonville im Schlamm zu leben.
Das Gelände selbst wurde vor einem Jahr an eine Privatgesellschaft verkauft. Die Besitzer erschienen zusammen mit der Polizei, um den Bewohnern mitzuteilen, sie hätten das Gebiet sofort zu verlassen, sie siedelten dort illegal.
Bald darauf versuchte man, uns durch Brandstiftungen zu vertreiben. Das ist extrem gefährlich, vor allem wenn die Kinder allein sind. Zweimal wurde ich dabei schon an der Hand verletzt, so dass ich Angst hatte, wegen der Verletzung keine Girlanden mehr kleben zu können. Wo sollen wir denn sonst leben - meine vier Mädchen kennen sich in der Gegend gut aus und verkaufen die Girlanden für Familienfeste. Auch wenn es schlecht läuft, verdienen wir immer noch genug, um wenigstens essen zu können. In die Schule schicken kann ich die Kinder natürlich nicht - die Gebühr für ein Schuljahr liegt bei 2.500 Baht (etwa 150 Mark - die Red.), das können wir nicht bezahlen."
Zusammenstellung und Übersetzung: Lutz Herden
Quellen: UNDP-Bericht über die menschliche Entwicklung 2000, WEED, iz3w, Libération, Sozialgipfel der UN-Generalversammlung in Genf
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