Türkei Der Straßenprotest bringt Menschen zusammen, die zunächst nicht mehr eint als die Wut auf Tayyip Erdoğan, doch daraus kann eine politische Bewegung werden
Die Englisch-Dozentin Serem Ramau sitzt im Gezi Park am Taksim Platz im Gras und hilft ihren Studentinnen bei deren Aufgaben. Keine 48 Stunden nach einer der größten Demonstrationen gegen die türkische Regierung seit Jahren wirkt der Park mitten in Istanbul fast wieder so wie immer. Außer Transparenten und Plakaten an Zäunen, Mauern und Bäumen erinnert nicht mehr viel an die Unruhen vom Wochenende. Serem Ramau erklärt, warum sie sich den Protesten angeschlossen habe. „Die Leute wollen einfach nur ihre Meinung äußern können und sich keinem autoritären Regime unterwerfen, wie das Tayyip Erdoğan gern hätte. Wir lehnen das ab, darum sind wir hier.“
Onur Aygünes ruht sich im Schatten eines Baumes aus. Ganz in der N
z in der Nähe befindet sich ein Stand lesbischer und schwuler Aktivisten von Lambda Istanbul. Der 29 Jahre alte Berater sagt, zum ersten Mal habe er das Gefühl, dass es eine politische Bewegung auch zu der nötigen Dynamik bringen werde, um etwas zu verändern. „Meine Freunde und ich, wir fühlen uns in der Türkei seit jeher ausgegrenzt. Um so mehr bin ich begeistert von dem, was hier geschieht. Die meisten waren noch nie in irgendeiner Weise politisch aktiv.“ Aygünes, der selbst schon am Istanbul Gay Pride oder an Demonstrationen zum 1. Mai teilgenommen hat, ist überzeugt, dass die exzessive Polizeigewalt der letzten Tage völlig kontraproduktiv war. Sie habe die Leute aufgebracht und nicht abgeschreckt. „Ich wurde mit Tränengas beschossen. Das ist mir noch nie passiert.“Eine andere Gruppe von Studenten feiert den Gründer der modernen Türkei. Sie skandieren: „Wir sind die Soldaten Mustafa Kemals“ und tragen ein Plakat vor sich her, auf dem steht: „Wir werden nicht töten – wir werden nicht getötet werden – wir sind niemandes Soldaten!“ Der Slogan klingt nicht sehr türkisch, sondern mehr anti-militaristisch. Der Park ringsherum ist mit etlichen Fahnen dekoriert: Manche tragen Insignien der Umweltbewegung, andere die Farben des Regenbogens, wieder andere das Konterfei Atatürks oder Che Guevaras. An Bäumen hängen Schriftrollen mit den Namen der Opfer des Mitte Mai verübten Autobombenanschlags in der Grenzstadt Reyhanli sowie der 35 Zivilisten, die 2011 bei einem türkischen Luftangriff an der Demarkationslinie zum Irak getötet wurden. „Wir sind weder anti-religiös noch anti-säkular“, sagt Onur Aygünes. „Alle Gruppen sind hier vertreten. Es ist das erste Mal, dass es dazu gekommen ist ...“Blutrünstiger SultanWährend die Protestbewegung weitgehend von Istanbuls urbaner Mittelschicht getragen wird, gibt es im Gezi Park auch andere, die unzufrieden sind. Der kurdische Obsthändler Hüseyin Avci steht hinter seinem Karren. „Die Zabita (die örtliche Polizei – die Red.) lässt mir kaum noch Raum, um Geld zu verdienen. Was ich hier verdiene, das ist meine einzige Einkommensquelle. Die AKP geht gegen mobile Straßenverkäufer vor, ohne Alternativen anzubieten. Es interessiert sie einfach nicht.“ Der 27-jährige Alihan Kirac hat ähnlich zu kämpfen. „Meine ganze Familie arbeitet im Einzelhandel. Erdoğan will überall Einkaufszentren bauen, sogar im Stadtzentrum. Wie sollen wir dann Geld verdienen?“ Wie viele in dieser Gegend stößt sich Kirac an Erdoğans Selbstherrlichkeit: „Er hört auf niemanden. Er wird jeden Tag reicher, aber um uns schert er sich einen Dreck.“ Er habe bisher zweimal die Religiösen gewählt, werde das aber garantiert nicht noch einmal tun.Die AKP-Regierung und ihre Behörden benehmen sich, als könnten sie in dem Jahrhunderte alten Istanbul tun und lassen, was sie wollen, ohne sich um Folgen für das Stadtgefüge zu scheren. Vor zwei Wochen erst wurde mit einer pompösen Zeremonie der Baubeginn einer dritten großen Brücke über den Bosporus gefeiert. Mögliche Folgen für die Umwelt waren zuvor nicht einmal ansatzweise debattiert worden. Getauft wurde das geplante Bauwerk zu allem Überfluss auf den Namen Sultan Selims des Grausamen, der so barbarisch gegen die Religionsgruppen der Aleviten und Schiiten vorging wie kein anderer in der Geschichte des Osmanischen Reiches. Der mächtige Sultan und Eroberer Ägyptens war berüchtigt für Massaker an Zehntausenden von anatolischen Aleviten, besonders nach seinem Krieg gegen Persien. Man hätte die bewusste Brücke gut und gern nach Rumi, dem großen Sufi-Denker, dessen Lehre der universalen Toleranz von Anatolien aus in der gesamten Region verbreitet wurde, oder nach irgendeinem anderen muslimischen Humanisten benennen können. Es ist unschwer zu erkennen, wie sehr die Aleviten durch die Entscheidung für Selim provoziert wurden. Immerhin stellen sie ein Zehntel der türkischen Bevölkerung und warten nach wie vor auf eine offizielle Anerkennung ihrer geistlichen Identität und Rechte. Mit diesem Namen dürfte die neue Bosporus-Brücke schwerlich zum Symbol der Verbindung von Kontinenten und Kulturen taugen, sondern vielmehr eine schmerzhafte kollektive Erinnerung wachhalten.Aber nicht allein die Aleviten sind beunruhigt: Mit einer Reihe gigantischer Bauprojekte in Istanbul hat die Regierung Menschen verschiedenster politischer Überzeugungen und aller Altersstufen gegen sich aufgebracht. Anfang Mai haben die Stadtoberen in großer Eile ein Kult-Kino von historischem Wert abgerissen, um es durch eine Shopping Mall zu ersetzen. Das ging ebenso am Willen der urbanen Mehrheit vorbei wie das gerade erlassene Gesetz zur Beschränkung des Alkoholverkaufs. Begründung: Dies sei ein „Gebot der Religion“. Darüber lasse sich nicht diskutieren. Viele Einwohner Istanbuls, einschließlich der Sunniten, fühlen sich dadurch bevormundet und reglementiert. Wer sich in ihre Art zu leben nicht nur einmischt, sondern in ihren Alltag derart eingreift, löst großen Unmut aus.Ein paar Freiwillige im Gezi Park verteilen an einem von Aktivisten aufgebauten Tisch Lebensmittel, Wasser, Kleidung, Regenschirme und Medikamente. Ein handgeschriebenes Schild bittet um Spenden. Decken und Zelte sollten es sein. „Die Leute geben alles Mögliche“, sagt der 20-jährige Student Doruk Keskin. „Was wir erhalten, reichen wir kostenlos an jeden weiter, der zu uns kommt.“ Er sei nicht sicher, wie viele Freiwillige es hier gäbe. „Wir organisieren alles selbst. Das ist nicht mehr nur die Bewegung vom Gezi Park – das ist eine Bewegung, die von der ganzen Bevölkerung getragen wird.“ Wie um zu bestätigen, was er sagt, kommt eine etwa 50-jährige Frau vorbei, die eine mit frischem Brot gefüllte Tüte abgeben möchte, während nebenan ein älterer Mann nach Tee fragt. Ein paar Meter weiter hat sich eine Gruppe elegant gekleideter Frauen versammelt, die Fahnen mit dem Porträt Atatürks in den Händen halten. „Wir gehen heute nicht zur Arbeit“, lacht eine von ihnen. „Unser Chef unterstützt die Proteste. Wir sind hier, weil wir von der Regierung genug haben. Sie versucht, unsere Freiheit einzuschränken. Wir sind die Kinder von Kemal Atatürk, dem größten Führer aller Zeiten!“Einigen der Protestler bereiten die nationalistischen Töne bei den Demonstrationen, die mit einem friedlichen Sit-In gegen die Umwandlung eines kleinen Parks in eine kitschige Herberge im osmanischen Stil begannen, allerdings Sorgen. „Für manche Leute hier ist es völlig selbstverständlich, türkische Fahnen zu schwenken und Atatürk-Slogans zu rufen“, sagt der Dokumentarfilmer Bingöl Elmas. „Aber für mich als Kurden sind diese Symbole mit Konflikten verbunden, die wir in der Türkei noch nicht gelöst haben. Manche skandieren: ‚Wie glücklich ist der, der sagt: Ich bin ein Türke‘, aber uns Kurden schließt das aus.“Machtanspruch der AKPOnur Aygünes bedauert, dass die pro-kurdische Partei für Frieden und Demokratie (BDP) sich nicht an den Meetings beteiligt: „Ich habe sie immer unterstützt, aber ich denke, es ist für sie ein politisches Votum, einstweilen auf Abstand zu achten.“ Selahattin Demirtas, Ko-Vorsitzender der BDP, hat erklärt, seine Partei unterstütze den Aufruhr gegen die repressive Politik der Regierung, sie müsse aber davor warnen, dass nationalistische Gruppen die laufenden Friedensgespräche zwischen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) und der türkischen Regierung sabotieren. „Wir werden nicht zulassen“ – so Demirtas – „dass sich die Ereignisse im Gezi Park negativ auf diese Kontakte auswirken. Unsere Basis wird sich nicht an Demonstrationen von Rassisten und Faschisten beteiligen.“„Es ist nun einmal so: Am deutlichsten unterscheiden sich nationalistische Kemalisten und liberale Linke in ihrer Haltung zur kurdischen Frage“, sagt Onur Aygünes. „Und bislang ist das Thema nicht viel debattiert worden.“ Das werde sich aber mit der Zeit ändern. „Der erste Schritt besteht darin, zusammen Protestslogans einzustudieren. Der zweite wird sein, miteinander zu reden.“Keine Frage, die Kurden bleiben die wichtigste oppositionelle Kraft in der Türkei. Auch wenn der Abzug der bewaffneten PKK-Kämpfer im Augenblick reibungslos vonstatten geht, haben diese 18 Prozent der Bevölkerung das Gefühl, trotz der Geheimgespräche mit der PKK weiter in der Luft zu hängen. Sie werden immer ungeduldiger, da sie vergebens auf irgendeine Art von Reform warten. Darin liegt die eigentliche Brisanz dieser unruhigen Tage für Ministerpräsident Tayyip Erdoğan und seinen vermeintlich unerschütterlichen Machtanspruch.
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