„Die Klimawende ist nicht sozial genug“

Nachhaltigkeit Wie kann Wirtschaft ökologisch nachhaltig werden, ohne dabei Armut zu produzieren? Der Soziologe Klaus Dörre weiß es
Ausgabe 50/2021

In seinem jüngsten Buch Die Utopie des Sozialismus erörtert der Jenaer Soziologe Klaus Dörre, wie eine ökologische Transformation auf den Weg gebracht werden könnte, die sozialverträglich ist. Wie weit kommt die Ampel-Koalition nun auf diesem Weg? Oder ist er durch die FDP komplett verbaut?

der Freitag: Herr Dörre, stellen wir uns vor, wir schrieben das Jahr 1983 und damals hätte die Chance bestanden, dass SPD, Grüne sowie die FDP eine Regierung bilden. Das hätte der Startpunkt für ein spannendes ökosozialistisches Projekt werden können.

Klaus Dörre: Auf jeden Fall. Auch wenn es sich schon damals nicht mehr um die FDP der Freiburger Thesen gehandelt hat, die eine Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien forderte. Aber immerhin gab es noch einen starken Bürgerrechtsflügel. Viele Grüne verstanden sich als Ökosozialisten und bei der SPD hätten Aushängeschilder wie Oskar Lafontaine einen linken Reformkurs repräsentiert.

Vier Jahrzehnte später sieht die Lage ein wenig anders aus – oder?

Heute steht die FDP vor allem gegen Steuererhöhungen. In der Ampel-Koalition hat sie die notwendige soziale Umverteilung zu Gunsten der kleinen Geldbeutel blockiert: Eine Reform der Einkommens- und Erbschaftssteuer wird es ebenso wenig geben wie die Einführung einer Vermögenssteuer.

War die SPD zu schwach, um sich hier durchzusetzen?

Beim Mindestlohn hat sie sich durchgesetzt, aber das reicht nicht: Die Umverteilung müsste das gesamte untere Segment der Einkommen erfassen. Dazu kommt der riesige politische Fehler, an den Sanktionen bei Hartz IV festzuhalten. Die Sozialdemokraten haben sich – anders als die Grünen – selbst dagegen entschieden, die Mitwirkungspflicht bei Hartz IV langfristig abzuschaffen.

Wieso hängt die SPD so sehr an diesem Druckinstrument?

Das hat mit Ressentiments der Bezieher niedriger Einkommen zu tun, die auch in Gewerkschaften vorzufinden sind: Wer hart arbeitet und trotzdem wenig verdient, soll deutlich besser gestellt werden als Erwerbslose. Dabei bringt der Überwachungsapparat in den Jobcentern keine positiven Effekte, ist enorm kostspielig und stigmatisierend – und macht sämtliche Niedriglöhnerinnen erpressbar. Ein Bürgergeld mit Sanktionen ist kein Bürgergeld.

Von Ökosozialismus ist in der Ampel also keine Spur?

Ökosozialistische Ansätze findet man höchstens in der Grünen Jugend. Aber immerhin, mit der Abschaffung der EEG-Umlage haben die Grünen ein bisschen was versucht. Und der Koalitionsvertrag sieht vor, dass es ein Klimageld geben wird, doch in welchem Umfang, bleibt völlig unklar – und der Finanzminister heißt Christian Lindner. Die Umverteilung kommt in der Klimawende viel zu kurz.

Gleichzeitig steigen die Lebenshaltungskosten jetzt schon.

Und das ist erst der Anfang. Je nachhaltiger produziert wird, desto stärker werden die Preise bei Nahrungsmitteln, Energie und anderen Gütern ansteigen. Ein Klimageld kann das nicht auffangen, das beobachten wir leider in der Schweiz. Um zu verhindern, dass die frei verfügbaren Einkommen der kleinen Portemonnaies immer geringer werden, müssten die ganz großen Einkommen und Vermögen zur Umverteilung herangezogen werden. Da steht die FDP als die eigentliche Verbotspartei aber dagegen.

Zur Person

Klaus Dörre, Jahrgang 1957, ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie in Jena und enger Begleiter der Klimabewegung sowie der Gewerkschaften. Sein Buch Die Utopie des Sozialismus. Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution erschien im Herbst bei Matthes & Seitz

Für den ökologischen Umbau sind Stromtrassen und Windräder nötig. Im Koalitionsvertrag ist viel von einer Beschleunigung der Planungs- und Genehmigungsverfahren die Rede. Werden die Grünen hier auf den lokalen Widerstand ihrer eigenen Klientel stoßen?

Häufig läuft das mit der Bürgerbeteiligung so, dass die zumeist vorher schon gefällten Beschlüsse im Nachhinein durch eine Scheinpartizipation legitimiert werden.

Eine „Mitmachfalle“?

Ich halte das für einen Systemfehler. Eigentlich müsste die demokratische Beteiligung vor der Entscheidung passieren. Wenn Beschlüsse gefasst sind, dann müssen sie durchgezogen werden und zwar schnell. Meiner Vorstellung nach sollte bei derartigen Planungsprozessen bereits im Vorfeld unter Einbeziehung von Klimaräten ein Aushandlungsprozess zwischen den beteiligten Ebenen stattfinden: zwischen den direkt betroffenen Kommunen, dem Land und gegebenenfalls auch dem Bund. Hierbei müssen unterschiedliche Interessen integriert werden. Auch das kostet natürlich Zeit. Aber ich halte es für den einzig gangbaren Weg, um die derzeitige Zangenkrise zu überwinden und die anvisierten Klimaziele überhaupt noch zu erreichen.

Was ist mit dem Ausdruck „Zangenkrise“ gemeint?

Das wichtigste Mittel zur Befriedung sozialer Konflikte im Kapitalismus ist die Erzeugung von Wirtschaftswachstum nach den Kriterien des Bruttoinlandprodukts, was nach wie vor mit einem hohen Energie- und Ressourcenverbrauch und einem entsprechenden Emissionsausstoß verbunden ist. Bleibt das Wirtschaftswachstum aus oder bleibt schwach, so nimmt die soziale Not zu, ist es aber stark, werden der Klimawandel und das Artensterben befördert.

Ein Dilemma.

Aus dem es zwei mögliche Auswege gibt: Entweder gelingt es, das Wirtschaftswachstum nachhaltig und ökologisch zu machen, oder wir schaffen eine Gesellschaft, der es gelingt, sich vom Zwang zu raschem, dauerhaften Wirtschaftswachstum zu emanzipieren.

Auf welchem dieser Wege findet sich die CO2-Steuer?

Die CO2-Steuer greift leider nicht in die Produktion ein, weil sie bei den Verbrauchern ansetzt. Der Hauptanteil der Emissionen entsteht aber in der Produktion. Es wird hier zu einseitig auf Markt und Technologie gesetzt.

Die Ampel-Koalition hat sich aus sozialen Gründen dazu entschieden, sie nicht weiter anzuheben.

Wodurch die Lenkungswirkung zu gering ist.

Und wenn sie stark erhöht wird?

Dann gibt es ein soziales Problem. Dann kriegen wir – im besten Fall! – die Gelbwestenbewegung. Die übrigens in Frankreich am Ende eng mit der Klimabewegung zusammengearbeitet hat!

In Deutschland kommt der Protest etwa gegen ein Tempolimit oder einen Verbrennerausstieg von der AfD. Die Ampel verzichtet nun auf Verbote und setzt auf Technologien.

Hinter der Ampel-Politik steht die Illusion, wir könnten weitermachen wie bisher. Für die enorm CO2-intensive Stahlproduktion etwa soll grüner Wasserstoff zum Einsatz kommen. Man will außerdem die Umstellung auf E-Mobilität forcieren. Woran sich allerdings die Frage knüpft, woher der Strom dafür kommt. Wenn dieser sich nicht aus erneuerbaren Energien speist und mit einer Kreislaufwirtschaft beim Batteriebetrieb gekoppelt wird, wäre der ökologische Fußabdruck noch größer als beim konventionellen Verbrenner.

Um Verzicht kommen wir Ihrer Meinung nach nicht herum?

Es muss darum gehen, weniger, aber dafür langlebige Güter herzustellen. Dadurch steigen die Preise, was wiederum verlangt, dass die Löhne und Sozialleistungen so hoch sind, dass die Produkte auch noch bezahlt werden können.

In Ihrem Buch zeigen Sie, wie wichtig es für eine ökosozialistische Perspektive ist, sich mit der Funktionsweise von Institutionen zu befassen. Damit stoßen Sie in eine Lücke der linken Theoriebildung. Das Thema hat man weitgehend konservativen Denkern überlassen.

Das würde ich sofort unterschreiben, ohne das Problem jetzt lösen zu können. Die marxistische Staatstheorie etwa von dem griechisch-französischen Politikwissenschaftler Nicos Poulantzas wurde noch in der globalisierungskritischen Bewegung stark rezipiert. Sie ist bei der Erkenntnis stehen geblieben, dass es sich beim Staat nicht um ein homogenes Gebilde handelt, sondern dass er aus jeweils umkämpften Apparaten besteht. Die Schwerkraft oder das Eigengewicht von Institutionen oder die Frage, wie man sie nutzt, um bestimmte Ziele zu erreichen, ist von marxistischer Seite bislang zu wenig behandelt worden.

Wozu bräuchten wir diese Institutionsanalyse aus linker Perspektive?

Beispielsweise wird die Frage, ob man regieren soll oder nicht, in der Linken unnötigerweise zu einer Frage von alles oder nichts aufgebauscht. Die Frage ist doch vielmehr, unter welchen Bedingungen und mit welchem Ziel. Man regiert ja mit einem bestimmten Verwaltungsapparat und mit Institutionen, die so etwas wie eine Eigenlogik entwickeln, von denen eine Regierung bis zu einem gewissen Grad aber abhängig ist.

Und man muss diese Eigenlogik verstehen, um in das Verwaltungshandeln intervenieren zu können.

Ganz konkret: Wenn es gelänge, die Behördenapparate auf die 17 Nachhaltigkeitsziele auszurichten, wie sie von den Vereinten Nationen beschlossen worden sind, wäre viel gewonnen. Etwa die Landesentwicklungsgesellschaften, die Wirtschafts- und Industriepolitik umsetzen sollen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das auf Defizite der Bundesregierung in Sachen Klimaschutz hinwies, deutet so etwas an.

Wer über die Produktionsmittel verfügt, stellt die Weichen für die gesellschaftliche Entwicklung. Viele Linke glauben, dass sich die Klimawende nur mit einer Umwälzung der Eigentumsverhältnisse – Enteignung und Vergesellschaftung – bewerkstelligen lässt. Wie sehen Sie das?

Summa summarum wird schon jetzt ein Drittel der Wirtschaftsleistung von Genossenschaften und anderen Unternehmen erbracht, die nicht am Profitprinzip ausgerichtet sind. Privateigentum ist außerdem nicht Privateigentum. Auch innerhalb des kapitalistischen Eigentums macht es einen Unterschied, ob Betriebsräte oder Gewerkschaften an Investitionsentscheidungen beteiligt sind oder nicht, wie es momentan der Fall ist. Zudem gibt es die Möglichkeit, neue kollektive Eigentumsformen für große Unternehmen zu entwickeln, bei denen sich beispielsweise Mitarbeitergesellschaften auch gegenüber der Zivilgesellschaft verantworten müssen.

Welche Rolle spielen kleine und mittlere Unternehmen in Ihrer Utopie einer ökosozialistischen Gesellschaft?

Ich denke, dass unter marktwirtschaftlichen Konkurrenzbedingungen arbeitende Unternehmen für Innovationen förderlicher sind als Unternehmen in Staatsbesitz. Sie sollten nicht enteignet werden, auch nicht bloß geduldet, sondern vielmehr gefördert werden. Zum Beispiel, indem die Möglichkeit geschaffen wird, dass die im Wettbewerb miteinander stehenden Unternehmen im Falle eines Fachkräftemangels einander mit entsprechend qualifizierten Beschäftigten aushelfen.

Ökosozialismus klingt recht realitätsfern.

Einige seiner Elemente müssen und können bereits jetzt entwickelt werden. Dazu gehört das Praktizieren von und das Experimentieren mit Alternativen in den Nischen, die das kapitalistische System uns lässt. Wir müssen um die Erweiterung von Mitbestimmungsmöglichkeiten in den Betrieben kämpfen und dabei zivilgesellschaftliche Kräfte aus der Klima- oder Frauenbewegung hinzuziehen, die bislang außerhalb der Unternehmen agieren.

Das wird die Unternehmen sicher freuen ...

Hier erwarte ich den meisten Widerstand. Wichtig ist aber auch, dass man in den sozialen Bewegungen nicht in einen Pseudoradikalismus verfällt. Aufrufe zum Wahlboykott, wie sie jüngst etwa während des Klimastreiks in Jena als Minderheitenposition zu vernehmen waren, halte ich für kontraproduktiv, um politische Veränderungen in die Wege zu leiten. Sehr viel effektiver ist es, die politischen Entscheidungsträger unter Druck zu setzen, dann mit ihnen zu verhandeln und schließlich auch in Parteien mitzumischen, um die Kräfteverhältnisse zu verändern.

Davon sind wir aber noch ein ganzes Stück entfernt.

Manchmal bräuchte es nur einen kleinen Schritt. Beispielsweise hätte die Regierung einem in Not geratenen Konzern wie der Lufthansa sagen können: Ihr bekommt nur dann Staatsknete, wenn ihr das Geld in Belegschaftsanteile umwandelt. Das wäre ein großer, aber leicht zu realisierender Weg in die ökosozialistische Richtung gewesen.

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