Die Knochenbrecher

Kolumbien Der Bürgerkrieg hat Tausende von Landminen hinterlassen – mit fatalen Folgen
Ausgabe 34/2017

Hektik und Stress kennen die Chirurgen im besten Hospital des Landes zur Genüge. In der Medellíner Klinik Pablo Tobón Uribe operieren sie Patienten, die bei der Detonation von Landminen verletzt wurden. Dazu kommt es nur allzu oft in Regionen, die bis Ende 2016, als es zum Friedensvertrag zwischen der Regierung und den FARC-Rebellen kam, zu einer der Kampfzonen gehörten. Er könne wieder fast so wie früher laufen, sagt Sofonias Palacio Arias, und redet vom „großen Glück“, das er hatte, weil nach der Explosion sofort ein Helikopter kam, der ihn nach Medellín in die Tobón-Klinik flog. „Ich durfte mein Bein behalten, was in Kolumbien viel wert ist. Einbeinige finden in diesem Land nur schwer eine Stelle.“

Das Unglück geschah am 23. November 2014. Ein Tag, den Sofonias nie vergessen wird. Er war im Norden des Landes in der Nähe des Ortes San José unterwegs und trat am Rand eines Feldweges auf einen vergrabenen Sprengkörper. Zwar hatten Minenräumer zuvor die Gegend durchkämmt, aber offenbar nicht sämtliche Landminen entdeckt und entschärft. Häufig sind Sprengfallen nicht nur ein Erbe des Bürgerkrieges, vielfach dienen sie auch dazu, Koka-Plantagen gegen den Zugriff staatlicher Autoritäten zu sichern. Nach Angaben des Presidential Programme for Mine Action (PAICMA) wurden allein im Jahr 2014 538 Kolumbianer (darunter 40 Kinder) durch Landminen verletzt oder getötet. Neben Afghanistan, Kambodscha, Angola und Somalia gehört Kolumbien zu den am stärksten verminten Ländern weltweit.

Die Luft flirrt über dem Zentrum von Medellín. Voll besetzte Busse schaukeln über glühendes Pflaster, Sittiche zwitschern in den Baumkronen, Straßenhändler sind unterwegs. In diesem vitalen Innenstadtbezirk liegt die Pablo-Tobón-Uribe-Klinik, an deren Zugängen Security Guards jeden Besucher und jedes Gepäckstück durchsuchen. Im Innenhof des Hospitals, der für ein Café genutzt wird, sitzen Patienten, Krankenschwestern und Ärzte, versunken in das Rauschen der Palmen und das Plätschern eines Springbrunnens.

Man habe den Fuß von Sofonias Palacio Arias retten können, weil Arterien und Nerven noch aktiv waren, sagt Dr. Leon Mora. „Wir mussten deshalb nicht amputieren.“ Leider sei das operierte Bein jetzt kürzer, weil ein Teil des Knochens fehle, doch werde man sich bei einem weiteren Eingriff bemühen, das Bein wieder zu verlängern. Dr. Mora zeigt ein Bild von Sofonias, auf dem der junge Kolumbianer mit strahlendem Blick über einen Flur des Tobón-Hospitals spaziert. „Ich habe gute Arbeit geleistet, wenn der Patient ein Bein, einen Fuß oder einen Arm behalten kann“, sagt der Chirurg, „dann steht ihm die Welt wieder offen. Zumindest hoffen wird das.“

Dr. León Mora, Ortopedia Alargamiento Oseo, steht auf dem Schild vor dem Behandlungsraum 144 des Krankenhauses und verweist auf den bekanntesten Chirurgen der Klinik. Die Bewohner Medellíns reagieren verzückt auf seinen Namen. Man kennt und verehrt ihn, weil er sich nicht nur als Mediziner einen Namen gemacht hat, sondern die Auffassung vertritt, Amputationen und Prothesen müssten vermieden werden, wo immer das möglich erscheine. „Wertvoller ist es, wenn der Patient die Klinik mit einem Lächeln verlässt“, sagt Dr. Mora. „Dies ist jedoch nur dann der Fall, wenn er sein Bein oder seinen Fuß behalten darf. Amputieren ist leicht, nur hat ein Patient danach tausend Probleme. Er findet kaum Arbeit, benötigt eine Prothese und ist in seinem täglichen Leben auf Hilfe angewiesen. Natürlich verlangt eine Wiederherstellung aufwendige Behandlungen, oft zwei, drei oder mehr Operationen, die dauern und teuer sind. Doch lohnt sich der Aufwand auf alle Fälle, bedenkt man die Folgekosten einer Amputation.“

Amerikanische Standards

Wer diesen Anspruch hat, benötigt ein gut ausgebildetes Team aus Chirurgen, Internisten, Physiotherapeuten und Psychologen, das in der Tobón-Klinik vorhanden ist. Deren Standards kämen denen renommierter amerikanischer Krankenhäuser nahe, meint Dr. Mora. „Würde ich in den Vereinigten Staaten praktizieren wollen, müsste ich allerdings noch einmal zehn Jahre studieren, um die nötigen Qualifikationen vorweisen zu können.“ Mora wurde in Kolumbien an der CES-Universität als Mediziner ausgebildet. Er hat sich danach an der Universidad Pontificia Bolivariana in Medellín auf Chirurgie wie Orthopädie spezialisiert. Seither ist Mora häufig zu Vortragsreisen und Kongressen in Lateinamerika, auch in den USA unterwegs. Im Abstand von zwei Jahren organisiert er in Medellín einen Kurs, an dem vorrangig Mediziner aus von Bürgerkriegen heimgesuchten Staaten teilnehmen. Was sie bewegt, ist die Frage: Wie lassen sich bei Minenopfern Amputationen vermeiden, indem schwer geschädigte Gliedmaßen erhalten werden? Wer bezahlt die Behandlung, die Therapie und Rehabilitation?

Sofonias Palacio Arias, das Minenopfer aus San José, musste in den vergangenen zwei Jahren immer wieder in der Tobón-Klinik nachbehandelt werden, so dass Kosten von umgerechnet 35.000 Euro entstanden, die bisher vom Staat auf der Basis eines Sozialhilfeprogramms getragen wurden. Wie man die Ausgaben begleiche, das richte sich nach dem sozialen Status eines Patienten, erläutert Dr. Mora. Man bewerbe sich per Antrag, schildere seinen Fall, das Einkommen, die familiäre Situation und bekomme eine Punktzahl zuerkannt, der zu entnehmen sei, welche Leistungen übernommen werden.

Da in Kolumbien ein Viertel der Bevölkerung direkt an oder unter der Armutsgrenze lebt, pro Tag also bestenfalls über umgerechnet zwei Euro verfügt, ist das soziale Sicherheitsnetz der Gesundheitsversorgung extrem belastet. Nur etwas mehr als die Hälfte der Bürger ist vom Einkommen her verpflichtet, Beiträge für medizinische Leistungen zu zahlen. Bereits 2009 hat das dazu geführt, dass für das Gesundheitssystem eine Art nationaler Notstand ausgerufen wurde. Es standen einfach kaum mehr liquide Mittel zur Verfügung. Die Regierung verwies bedürftige Bürger an externe nichtstaatliche Dienste wie die FISDECO, die gegen einen geringen Unkostenbeitrag nicht nur medizinische Versorgung, sondern auch Einkommens- und Bildungshilfe anbietet.

Sofonias Palacio Arias wurde vermutlich zum Opfer einer Mine, die von Kämpfern der Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) verlegt wurde, auch wenn das eine Vermutung und nicht sicher ist. Sein Fall zeigt exemplarisch, was nach dem Friedensschluss zwischen der Regierung und dem bewaffneten Widerstand über die Demobilisierung hinaus geleistet werden muss. Nach mehr als fünf Jahrzehnten Bürgerkrieg müssen Tausende von Minen geräumt werden, über deren Standort so gut wie keine Dokumentationen existieren. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Sprengkörper – sofern sie nicht von der Armee stammen – größtenteils von der Guerilla selbst gefertigt wurden. Die Rompepiernas – zu deutsch: Beinbrecher – sollten verletzen, nicht töten. Während sie einfach zu bauen und zu platzieren waren, erweist sich die Bergung als kostspielig und gefährlich.

Dr. Mora hält die FARC wie die Kämpfer der zweiten Guerillaformation, des Ejército de Liberación Nacional (ELN), mit dem die Regierung noch über eine Waffenruhe verhandelt, für Terroristen. „Früher mögen sie eine Ideologie gehabt haben. Und der Wille, sich für das Volk einzusetzen, war anfangs sicher vorhanden. Nur sind dann zu viele Unschuldige gestorben. Und es ging letzten Endes um Geld und Macht, denkt man nur an die Drogengeschäfte dieser Gruppen.“ Kolumbien habe heute eine demokratische Regierung, die es jedem erlaube, seine Position zu vertreten.

Was sich auch darin niederschlägt, dass die Unterhändler von Präsident Santos mit den Gesandten der FARC nicht wie Sieger des Bürgerkriegs verhandelt haben, sondern auf Zugeständnisse bedacht waren. Dies galt für die Demobilisierung der Rebellen, deren künftige parlamentarische Präsenz oder eine Agrarreform, die zeigen soll, dass 50 Jahre Kampf zu einem Ergebnis geführt und Besitzverhältnisse verändert haben. Doch ist die Zeit einer subversiven Guerilla definitiv vorbei. Bleibt nur zu hoffen, dass sich die Betroffenen dessen bewusst sind. Denn so viel ist klar: Scheitert des Friedensabkommen, laufen die FARC-Kämpfer Gefahr, von der Regierungsarmee in einem nochmals aufflammenden Bürgerkrieg vernichtend geschlagen zu werden.

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