„Es fehlt am Willen und an der Fähigkeit, Sicherheit jenseits des Militärischen zu denken“
Interview Der Historiker und Politikwissenschaftler Bernd Greiner äußert sich über die US-Außen- und eine alternative Sicherheitspolitik gegenüber Russland, die Gefahren eines Atomkonflikts und Folgen der US-Midterm-Wahlen
Präsident Joe Biden betont vor den Zwischenwahlen angesichts des Ukraine-Kriegs die militärische Stärke der USA
Foto: Saul Loeb/AFP via Getty Images
der Freitag: In den USA steht mit den Midterm-Wahlen am 8. November auch eine Halbzeitbilanz für Präsident Biden zur Abstimmung. Wird sich danach etwas am US-Kurs in der Ukraine- und der China-Politik ändern?
Bernd Greiner: Dass sich an den großen Linien der US-Außenpolitik etwas grundlegend ändern könnte, sehe ich nicht. Es wird bei dem Bemühen bleiben, den im Gang befindlichen und irreversiblen Verlust amerikanischer Hegemonie zu stoppen oder gar wieder zum Status quo ante zurückzukehren, so illusorisch das auch sein mag. Das ist von der Agenda sowohl der Demokraten wie der Republikaner nicht wegzudenken, beide tun sich mit dem Verlust der traditionellen Vormachtstellung ungemein schwer. Diesbezüglich gibt es keinen Unterschied zwischen be
wer. Diesbezüglich gibt es keinen Unterschied zwischen beiden Parteien. Deshalb bleibt es auch bei der Fixierung auf militärische Stärke und Übermacht. Und es wird auch nichts an der Bereitschaft ändern, die Konfrontation mit China zu suchen und gegebenenfalls va banque zu spielen. In einem Satz: Es fehlt am Willen und an der Fähigkeit, Sicherheit jenseits des Militärischen zu denken und politische Phantasie darauf zu lenken, wie eine solche alternative Sicherheit aussehen könnte und sollte.Aber was wiegt schwerer, die fehlende Kapazität oder der mangelnde Wille?Es ist beides. Es ist der Wille zur Macht, der sich in dem Unwillen manifestiert, sich von der hegemonialen Stellung zu verabschieden oder qualitative Einbußen in Kauf zu nehmen. Es ist aber auch ein Mangel an Phantasie. Warum? Weil dieses auf den Primat des Militärischen fixierte Denken seit 1945 in den politischen Diskurs der außen- und sicherheitspolitischen Elite der USA eingebrannt ist. Man kann und muss von einer verkümmerten politischen Phantasie sprechen, erstickt von dem Dogma, immer die Nr. 1 bleiben und die Welt nach eigenen Vorstellungen ordnen zu müssen.Wird denn der diffuse Streit um die „schmutzige Bombe“ oder ein möglicher Einsatz einer Atombombe den Ausgang der US-Wahlen beeinflussen?Außenpolitik hat in den USA nur selten eine Wahl und so gut wie nie eine Zwischenwahl beeinflusst. Aber eine militärische Eskalation, in welcher Form auch immer, hätte selbstverständlich unabsehbare Folgen. Zumindest würde es die Position all jener stärken, deren intellektueller Horizont nicht über Sprengköpfe hinausragt. Und davon gibt es auch unter Demokraten sehr, sehr viele.In ihrem 2021 erschienenen Buch „Made in Washington“ schreiben Sie, Europa müsse sich von den USA emanzipieren, es habe die Voraussetzungen dazu – darunter den Willen zum Verzicht auf Gewalt. Stehen Sie zu der Aussage auch heute?Das Schlusskapitel meines Buches rät zur intellektuellen Schubumkehr in der Außenpolitik, und zwar im Geiste einer gemeinsamen, kollektiven Sicherheit, anknüpfend an der Ost-Politik Willy Brandts in den 1970er Jahren und an der KSZE, aber auch im Rückgriff auf das Erbe von Michail Gorbatschow. Nun hat sich insofern etwas grundlegend geändert, als Wladimir Putin durch seinen Angriffskrieg die Aussicht auf eine kooperative Politik der gemeinsamen Sicherheit auf absehbare Zeit ruiniert hat. Wer das Völkerrecht bricht, einen Angriffskrieg führt, Kriegsverbrechen begeht, der ist für die meisten kein Ansprechpartner mehr. Doch dies ändert nichts an der Notwendigkeit einer kollektiven Sicherheitspolitik in Europa und über Europa hinaus. Im Unterschied zum Kalten Krieg stehen wir heute vor ganz anderen globalen Herausforderungen. Ob Klimakatastrophe, Pandemien oder wirtschaftliche Vernetzung – die großen Akteure müssen Lösungen auf der weltpolitischen Bühne finden und gemeinsam tragen. In dieser Hinsicht würde ich hinter die oben zitierte Aussage heute noch drei Ausrufezeichen setzen.Doch ist diese Zusammenarbeit nun bis auf Weiteres nicht absolut fern der Realität?Im Nachdenken über politische Systeme und alternative Sicherheitsarchitekturen dürfen wir uns nicht von aktuellen Ereignissen, so furchtbar sie sind, blenden oder entmutigen lassen. Zwei Beispiele: Die Idee der ‚kollektiven Sicherheit‘ entwarf Willy Brandt erstmals im Jahr 1939 – kurz nach dem Überfall auf Polen. Oder denken Sie an Michail Gorbatschow. Niemand hätte in den 1980er Jahren im Traum daran gedacht, dass angesichts der Zuspitzung des Kalten Krieges ein politischer Durchbruch möglich ist. In der EU hat man es in den 1990er Jahren und vor allem gegenüber George W. Bush seit 2000 versäumt, ein Gegengewicht zur damals und bis heute verfolgten Sicherheitspolitik Washingtons aufzubauen.Was ist der Kern dieser Politik der USA im Gegensatz zu jener der EU? Die USA wollen wie während des Kalten Krieges Sicherheit in erster Linie mit militärischer Stärke herstellen und obendrein eine Machtprojektion der NATO gen Osten betreiben. Das entschuldigt Putin zwar mit keinem Wort. Doch bereits 1997 warnte George Kennan, der große alte Mann und Stratege der US-Eindämmungspolitik im Kalten Krieg, vor den Folgen. Würden die USA weiterhin auf eine Osterweiterung der NATO und den Ausbau ihrer Militärallianzen setzen und die nicht-militärische Dimension von Sicherheit vernachlässigen, dann, so schrieb er, würde man in Russland die chauvinistischsten, nationalistischen und revanchistischsten Kräfte befeuern.Was hätte man stattdessen tun können?Man hat es versäumt, sicherheitspolitische Modelle jenseits des Ausbaus von Militärallianzen, also der NATO, auszutesten. Im Blick auf Osteuropa wäre das etwa die alte Idee der entmilitarisierten Zonen gewesen. Oder auch eine Politik in Anlehnung an das Modell Österreich, also einer Neutralität samt Garantiemächten, die diese Neutralität gewährleisten. All dies nach dem Ende des Kalten Krieges vernachlässigt zu haben, als das Fenster der Gelegenheit offen war – das meine ich, wenn ich von einem vergeudeten Jahrzehnt spreche.Die Europäer sind naturgemäß an einer dauerhaft friedlichen Sicherheitsarchitektur auf ihrem Kontinent interessiert. Doch den USA schreiben viele Experten, etwa der US-Geostratege George Friedman, als primäres geopolitisches Ziel zu, eine allzu enge Zusammenarbeit Russlands und der EU unbedingt zu verhindern. Ist vor diesem Hintergrund die Vermutung vertretbar, die USA könnten ein Interesse am Krieg in der Ukraine haben, den viele als Stellvertreterkrieg beschreiben?Diese These kann ich im Großen und Ganzen unterstützen. Es war seit 1945 die Strategie der USA, keine zu starke Verbindung Russlands zu Deutschland bzw. zu Westeuropa zuzulassen. Dafür gibt es viele Beispiele, nicht zuletzt das Misstrauen, phasenweise auch der Widerstand gegen die Ostpolitik Willy Brandts. Ich würde allerdings nicht unterstellen, dass Washington ein Interesse an einer Intervention Russlands in der Ukraine und einem Krieg gehabt hätte. Auf keinen Fall. Wohl aber hat Washington mit dem Feuer gespielt, als man offensiv eine NATO-Mitgliedschaft Georgiens und der Ukraine ins Spiel brachte. Man hat Risiken in Kauf genommen in der festen Überzeugung, die Russen auf welche Art auch immer von der Intervention in der Ukraine abhalten zu können. Dies war eine grandiose Fehlkalkulation. Das heutige Gejammer und die Kritik in Richtung Macron oder Merkel, verblendete und naive Westeuropäer hätten Putin zum Krieg ermutigt, geht völlig an der Sache vorbei. Wladimir Putin ist Westeuropa spätestens seit 2008 relativ egal – was er will, ist als gleichberechtigte Großmacht neben den USA anerkannt zu werden.
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