Die Krise findet nicht statt

Chinesische Zeiten Speckstein online, Bambus, Tannenzapfen: über die Digitalisierung eines Bauern in Guangxi
Ausgabe 35/2018
Bambus ist unter den verschiedensten Bewohnern Chinas eine gefragte Delikatesse
Bambus ist unter den verschiedensten Bewohnern Chinas eine gefragte Delikatesse

Foto: Feng Li/Getty Images

Chinas Krise ist ein Scheinriese. Der wirtschaftliche Zusammenbruch des Landes droht als Katastrophe gigantischen Ausmaßes in der Ferne, doch je näher der Betrachter ihr kommt, umso kleiner wirkt sie und umso unwahrscheinlicher scheint ihr Eintreten. Dabei ist die Geschichte der Volksrepublik eine der Prognosen ihres bevorstehenden Zusammenbruchs. In den 1990ern kulminierte das in der Prognose einer gewaltigen Schuldenkrise, an der das System endlich scheitern würde. Der derzeitige Handelskrieg mit den USA hat zu einer Neuauflage dieses Topos geführt. Breche der Export weg, müsse Peking die Konjunktur mit gewaltigen Krediten stützen, was wiederum in die Schuldenkrise führe und so weiter.

Beobachter vor Ort hören darin auch das Wunschdenken einer amerikanisch-europäischen Elite, die den Gedanken des Aufstiegs einer Nation Asiens an die Weltspitze nicht ertragen kann – noch dazu einer nominal kommunistischen. Tatsächlich gibt es keinen Beleg für einen drohenden Zusammenbruch. China hat kaum Auslandsschulden, im Inland kontrolliert die Regierung die Geldversorgung auf allen Ebenen. Wenn sich irgendwo eine Lücke auftut, steht die Zentralbank bereit, mit frischen Yuan auszuhelfen. Viel wichtiger sind die gigantischen Wachstumsreserven, über die das Land verfügt. China kann nicht nur beliebig Geld freisetzen, sondern es auch noch dazu einigermaßen sinnvoll nutzen.

Hier kommt Bauer Cen ins Spiel. Cen ist Mitte 40, er besitzt einen kleinen Hof in der Nähe eines Berges in Guangxi in Südchina, der halb bewachsen, halb felsig aus der Landschaft ragt wie ein Zuckerhut. Seine einzige Tochter studiert in der nahen Großstadt Guilin Buchhaltung, doch sie möchte nach dem Studium in das Dorf zurückkehren. Denn Cen macht gute Geschäfte – online.

Vor einigen Jahren hat er damit begonnen, Bambussprossen im Netz zu verkaufen. In seiner Gegend wächst Bambus an jeder Ecke geradezu unaufhaltsam aus dem Boden, während er in anderen Teilen Chinas eine gefragte Delikatesse ist. Nachdem Cen einen kleinen Shop auf taobao.com aufbaute, fing er an, handgemachte Reisnudeln zu verkaufen. Seine Kunden sitzen im ganzen Land – in Shanghai, in Peking, sogar in der Inneren Mongolei.

Cen wickelt die Geschäfte auf einem Lenovo-PC ab, den er online gekauft hat. Kürzlich hat sich seine Schwester an seinen Erfolg drangehängt, sie verkauft nun Specksteine in dem gleichen Shop, dazu Tannenzapfen und andere Deko-Artikel. Cens Schwester hat einen kleinen Laden am Wegesrand in der Nähe des Touristenorts Yangshuo. Dort verkaufen sie das gleiche Sortiment wie im Netz. Es geht ihnen damit ziemlich gut – so gut, dass Cens Tochter einsteigen will. Das ist selten hier, wo doch Kinder vom Land oft bei der ersten Gelegenheit dauerhaft in die Stadt abwandern. Die Digitalisierung verknüpft Anbieter und Käufer in einem nie dagewesenen Maßstab. Wanderarbeiter werden wieder sesshaft, neuartige Jobs entstehen. Bauern überspringen zum Teil die Urbanisierung und werden direkt Teil der Digitalökonomie. Der Wirtschaftskollaps lässt erst einmal auf sich warten.

Finn Mayer-Kuckuk berichtet seit 2010 als Korrespondent aus China

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