Die Lampe

Kehrseite II Sie liebte ihn und er liebte sie und sie hatten eine Lampe, die war jeden Tag dabei, wenn sie sich Gute Nacht sagten. ...

Sie liebte ihn und er liebte sie und sie hatten eine Lampe, die war jeden Tag dabei, wenn sie sich Gute Nacht sagten.

Die Lampe war aber mehr als nur eine normale Lampe. Normal war, dass sie jeden Tag dabei war, wenn sie sich Guten Nacht sagten, aber nicht normal war, dass die Lampe sich einmischte, wenn sie sich Gute Nacht sagten.

Er hatte die Angewohnheit, wenn er im Bett lag, nur noch kurz im Licht zu liegen und es dann dunkel zu haben. Sie liebte es, noch lange im Bett im Lampenlicht zu liegen. Und so fing jedes Mal das Verhandeln an.

"Noch fünf Minuten."

"Nein zehn Minuten und noch ein wenig quatschen. Und dann noch eine Minute."

"Na gut. Aber jetzt ist sie, die Minute, vorbei. Endgültig."

"Was hast du nur für Minuten?"

"Es scheint, du hast überhaupt gar kein Interesse am Reden mit mir."

"Ach so ein Quatsch, wenn ich liege, dann liege ich und werde müde."

Und nun kann man sich vorstellen, dass daraus ein prima Streit werden konnte.

Doch da geht die Lampe aus, ohne dass einer von beiden den Schalter betätigte. Beim ersten Mal dachte sie noch, er wäre heimlich an den Schalter gegangen. Sie sagte ihm: "Wie das? Mach das Licht wieder an." Aber er: "Ich habe es doch gar nicht ausgemacht." Sie dachte: "So ein Witzbold", und gab sich zufrieden. In der darauf folgenden Nacht lagen sie wieder da und verhandelten gerade. "Noch eine Minute".

"Immer deine Minuten, die sind ja Stunden."

Da ging auf einmal die Lampe wieder aus. Sie nun: "Ach nein", und er stöhnte auf: "Ach ja. Siehst du, sie ist auf meiner Seite und versteht mein Anliegen, die Lampe." Die Lampe ging einfach aus. Zuerst amüsierten sie sich beide, doch sie war benachteiligt, denn die Lampe war seine Verbündete. Immer wenn er wollte, dass das Licht ausgeht, machte die Lampe das Licht aus. Die Lampe hörte auf sein Wort. Da fing sie an, über eine neue Lampe nachzudenken.

Die Lampe musste es gehört haben. Denn nun fing die Lampe an, sich so schnell auszuschalten, dass es selbst ihm zu früh war. Und dann fing sie an, sich überhaupt nicht mehr auszuschalten. Nach einiger Zeit hörten diese Einseitigkeiten auf. Die Lampe schaltete sich einmal zu schnell ab oder blieb einfach an. Die Lampe machte nicht mehr, was er wollte und sie machte nicht, was sie wollte. Die Lampe machte, was die Lampe wollte und sie waren beide sauer auf sie. Wie kann man auf eine Lampe sauer sein?

Aber die Lampe führte ihr Eigenleben, war froh und lebte und leuchtete und erfüllte und führte ein sinnvolles Dasein.

Dietrich Wagner wurde 1967 in Eisenhüttenstadt geboren. Er arbeitet als Psychologe im Schwarzwald, wo er in der Suchtberatung tätig ist. Er schreibt Lyrik und Prosa.


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