Die Leitwährung

Kunstraub Eine Art längere Entführung: Warum der Kunstraub von Paris als sichere Investititon vor der Hintergrund der ökonomischen Krisen unserer Zeit gesehen werden muss

Einhundertsechsmillionenfünfhunderttausend Dollar. Nach acht Minuten und sechs Sekunden fiel Anfang Mai im New Yorker Auktionshaus Christie’s der Hammer. Fünf Bieter hatten den Preis für Pablo Picassos Gemälde Nackte, Grüne Blätter und ­Büste auf schwindelerregende 80 Mil­lionen Dollar hochgetrieben. Dann trat ein Unbekannter auf den Plan. Mit seinem Telefonanruf avancierte ein Bild zum teuersten Kunstwerk der Welt, das Picasso an einem einzigen Tag im März 1932 gemalt hatte. Als die Leinwand 1951 zum letzten Mal verkauft worden war, hatte sie noch knapp 20.000 Dollar erbracht.

Immer neue Rekordpreise in den Auktionen des Kunstmarkts liefern ein nicht unwesentliches Motiv für den spektakulären Kunstraub, bei dem vergangene Woche fünf Meisterwerke der Klassischen Moderne aus dem Museum für Moderne Kunst der Stadt Paris gestohlen wurden. Während die Weltwirtschaft im Strudel eines rapiden Werteverfalls versinkt, lockt die Kunst mit dem Versprechen bleibender Werte. Kein Picasso kann von einer Rating-Agentur heruntergestuft werden. Was ist, um Bertolt Brechts viel zitierten Satz zeitgemäß zu verkehren, schon die Gründung einer Bank gegen den Einbruch in ein Kunstmuseum – wenn bei Banken nur noch Inflationsgeld und faule Derivate zu holen sind?

Nach oben ist die Fantasiepreis-Skala auf dem Kunstmarkt prinzipiell offen. Die 104 Millionen Dollar für Alberto Giacomettis Skulptur Der schreitende Mann (L‘Homme qui marche) schienen im Februar noch unüberbietbar. Doch selbst das jüngste Picasso-Gebot dürfte nicht das Ende dieser Preisspirale markieren. Denn seit kurzem bieten die neuen Milliardäre aus Russland, China und Fernost mit, deren Reichtum und Prestigesucht die der transatlantischen Mäzene alter Schule in den Schatten stellen. Und für Kunst gelten andere Gesetze als die der klassischen Wertschöpfung. Gerade das Unbezahlbare bestimmt ihren Preis. Und macht ihre Aura aus.

Manchem Kunstdieb mag es schon Befriedigung genug sein, einen „unschätzbaren Wert“ erbeutet zu haben. „Er wird mir gehören“, schwört sich die reiche Amerikanerin Elizabeth Lipp, die von Melina Mercouri gespielt wird, in Jules Dassins Gaunerkomödie Topkapi von 1964, als sie in der Schatzkammer der Sultane am Goldenen Horn den Plan fasst, einen mit vier Smaragden geschmückten Dolch zu stehlen.

Dass Kunstwerke vom Rang der in Paris Gestohlenen „schwer verkäuflich“, weil zu bekannt sind, ist kein Argument gegen die Institution des Kunstraubs an sich. Wie sehr sie als Faustpfand komplexer Wertbildung dienen, kann man schon an den weltweit 26.000 als gestohlen registrierten Werken sehen, darunter allein 600 von Picasso. Und die Diebe haben Zeit. Die fünf Bilder von Franz Hals bis Hans Holbein, die bei dem berühmten Kunstraub von Gotha 1979 in der DDR entwendet wurden, tauchen womöglich erst dieser Tage wieder auf. Ende 2009 lief die Verjährungsfrist für die Tat ab.

Artnapping dürfte also umso lukrativer werden, je mehr klassische Rückversicherungsinstanzen an Wert verlieren. Ob die Pariser Diebe und ihre Hintermänner mit den Bildern Versicherungssummen zu erpressen suchen, ob sie damit Schwarzgeld waschen werden, oder ob sie einem öffentlichkeitsscheuen Milliardär die einsame Befriedigung verschaffen, die Magie von Picassos Taube mit Erbsen zu genießen. In allen Fällen bewiese sich ein immaterielles Gut als heimliche Leitwährung unserer Zeit: die Kunst.




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