Während einer Diskussion Ende 1955 im Kölner Funkhaus des WDR übernahm Gottfried Benn den Part des esoterischen Dichters. Dem katholischen Schriftsteller Reinhold Schneider und Heinrich Böll hielt er entgegen, Dichtung entstehe allein "in den höchsten Sphären", dort, wo "das Menschliche nicht zählt. Oberflächlich, politisch, auch intellektuell und rational ist die Kunst überhaupt nicht zu begreifen. Es ist sinnlos, sich ihr zu nähern. Es ist eine Sache der Dämonie, ein anderes Wort hat man gar nicht dafür. Eine dämonische, geheimnisvolle Angelegenheit. Und wer das auflösen will in Rationalismus und Bequemlichkeit und Bezugswünsche, der ist sehr weit weg von den Dingen." Benn traf mit diesen Reden offenbar den Nerv d
v der Zeit. Der Schriftsteller- und Arztkollege Alfred Döblin sagte einmal zu Benns Lyrik, sie sei "urologisch, zugleich kosmisch und prähistorisch, jedenfalls hochgebildet und weithin unverständlich."Der Bremer Literaturwissenschaftler Joachim Dyck hat nun im 50. Todesjahr des Dichters die Biografie Der Zeitzeuge. Gottfried Benn 1929-1949 vorgelegt. Natürlich kommt Dyck nicht daran vorbei, Benns geistige Nähe zur nationalsozialistischen Revolution zu untersuchen - eine Nähe, die ihm in der Nachkriegszeit zum Verhängnis wurde. Jetzt konnte Joachim Dyck durch Rückgriff auf umfangreiches Quellenmaterial minutiös nachweisen, dass Benns Verteidigung des Nationalsozialismus keine überraschende Kehrtwende in seinem Denken bedeutete. Denn von antidemokratischen, antiparlamentarischen und antiaufklärerischen Gedanken ließ sich der Dichter zeitlebens leiten. Und dennoch gab es eine Zäsur: Benn isolierte sich zusehends, als er in den Zeiten von Repression und Emigration gegen alle Widerstände sein nietzscheanisches Kunstideal hochhielt.Anfangs gehörte er noch zum erlauchten Literatenkreis in der "Preußischen Akademie der Künste" und sonnte sich im Glanz seiner literarischen Erfolge. Doch Benns Versuch, im Frühjahr 1933 die Unabhängigkeit der Akademie zu erhalten, geriet zur Anbiederung an die braunen Machthaber und zum Exodus zahlreicher Mitglieder. Döblin, Heinrich und Thomas Mann sind nur einige der Akademiekollegen, die das Exil bevorzugten. Derweil blieb Gottfried Benn zurück, ließ sich die neuen Mitglieder von Kultusminister Rust diktieren und rief den Exilanten nach, sie würden sich wie "Kinder und Taube" vor den Aufgaben des "neuen Staates" drücken. Als unmittelbar nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933 eine Emigrationswelle einsetzte, warf er vielen, die ihr Heil im südfranzösischen Sanary-sur-Mer suchten, "larmoyanten bürgerlichen Pazifismus" vor.Derweil schrieb Gottfried Benn Aufsätze zum Thema "Züchtung". Seine Argumente, mit deutlichem Verweis auf Nietzsches "Willen zum Macht", bleiben zweideutig. Einerseits verlangt er ganz unverhohlen "das Hervortreten eines neuen biologischen Typs" und "die letzte großartige Konzeption der weißen Rasse", andererseits scheint er, wenn man Joachim Dyck glauben mag, nicht allzu sehr am Biologismus der Nazis und am "Blut und Boden"-Gesülze der Parteiapologeten interessiert gewesen zu sein. Benn glaubte vielmehr an den nietzscheanischen Schöpfergeist, an eine umfassende Ästhetisierung, an die Kunst als "letzte metaphysische Tätigkeit des Menschen". Züchtung verstand Benn entsprechend im intellektuellen Sinne. Dyck zielt aber ganz offensichtlich übers Ziel hinaus, wenn er Benn zum Anhänger von Schillers "ästhetischer Erziehung des Menschen" macht. Unverkennbar nimmt jedenfalls der Anpassungsdruck zu, und spätestens Anfang 1934 muss Benn erkennen, dass seine Anstrengungen, die Eigenständigkeit der Akademie der Künste zu retten, endgültig gescheitert sind. Seine hehre, wirklichkeitsferne Hoffnung auf die Kunstpolitik des NS-Staates, auf eine Versöhnung von Kunst und Politik in der neu entstehenden Volksgemeinschaft, war illusionär, genährt von nationalsozialistischer Rhetorik.Gottfried Benn saß zwischen allen Stühlen. Öffentlich verteidigte er den "nationalen Sozialismus", die "echte Erneuerung des deutschen Volkes", "den neuen Staat" - doch die strammen Parteiideologen wandten sich zusehends von ihm ab. Zugleich bekam Benn den Druck durch die Emigranten zu spüren. So erreichte ihn aus dem französischen Exil ein Brief von Klaus Mann, der den Daheimgebliebenen als "Propheten des Dritten Reiches" kritisierte und ihn ausdrücklich warnte: "Wer sich aber in dieser Stunde zweideutig verhält, wird für heute und immer nicht mehr zu uns gehören." Als Gottfried Benn die ausweglose Situation erkannte, wählte er die Position des einsamen Genies. 1934 publizierte er einen Aufsatz mit dem provokanten Titel Lebensweg eines Intellektualisten. Darin schrieb er: "Unter den hundertfünfzig Genies des Abendlandes finden wir allein fünfzig Homoeroten und Triebvarianten, Rauschsüchtige in Scharen, Ehelose und Kinderlose als Regel, Krüppel und Entartete zu hohen Prozenten, das Produktive, wo immer man es berührt, ist durchsetzt von Anomalie, Stigmatisierungen, Paroxismen. Der größte Teil der Kunst des vergangenen Halbjahrhunderts ist Steigerungskunst von Psychopathen, von Alkoholikern, Abnormen, Vagabunden, Armenhäuslern, Neurotikern, Degenerierten, Henkelohren, Hustern." Alfred Rosenberg, der im Januar 1934 das "Amt für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSdAP" übernahm, konnte diesen Affront natürlich nicht übersehen.Auch nach 1945 machte Gottfried Benn wiederholt deutlich, dass er weder zu den Apologeten des untergegangenen Regimes noch zu den linken Emigranten gehörte. Als die ihn bedrohlich werdende "Entnazifizierungskampagne" begann, verteidigte er sich selbst als "inneren Emigranten". Doch es half nichts, seine Nähe zur NS-Diktatur wurde ihm zum Verhängnis. In den Wirren der Berliner Nachkriegszeit sah sich Benn "als Staats- und Gesellschaftsfeind Nr. 1" stigmatisiert. Die schwarze Liste des Berliner Magistrats sah das Verbot von Benns Gesamtwerk für die Volksbibliotheken vor. Für die zahllosen, unpublizierten Gedichte fand er keine Verleger, da die literarische Öffentlichkeit kein Interesse an seiner esoterischen, skeptischen Produktion bekundete.Benns Situation änderte sich erst, als 1949 der Verleger Max Niedermeyer vier Lyrikbände mit Gedichten der letzten 15 Jahre publizierte. In der frühen Adenauerzeit gehörte Gottfried Benn zweifellos zu den gefragtesten Dichtern. Da er von seinem Arztberuf eher schlecht als recht leben konnte, nahm er gern Einladungen zu Radiolesungen oder öffentlichen Diskussionen an. Ebenso die Einladung zur Kölner Funkhaus-Diskussion, ein halbes Jahr vor seinem Tod. Wie oft zuvor stritt er auch diesmal für eine ideologiefreie Kunst "ohne therapeutische und pädagogische Ansatzkräfte" - eine "reine Kunst, die Zeit und Geschichte aufhebt."Joachim Dyck: Der Zeitzeuge - Gottfried Benn. 1929-1949, Wallstein, Göttingen 2006, 464 S., 39 EUR
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