Die letzten Tage des Irrsinns

Sachlich richtig Literaturprofessor Erhard Schütz betrachtet bizarre Details aus der Militärgeschichte und der Geopolitik
Ausgabe 20/2015
Charles de Gaulles Schwester mit ihrem Mann nach der Befreiung des Schlosses Itter
Charles de Gaulles Schwester mit ihrem Mann nach der Befreiung des Schlosses Itter

Foto: Eric Schwab/AFP/Getty Images

Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war die der Neuordnung der Welt, mithin zugleich auch die Hochzeit der Geopolitiker. „Alle staatlichen Hegungen und Grenzen, Kerbungen und Ordnungen sind deterritorialisiert. Die Welt ist ein ortloses, also atopisches Meer geworden.“ So endet Niels Werber seine Einführung zur Geopolitik. Das sounded zwar schnittig carlschmittig, aber nicht nur Wladimir P. ist da etwas anderer Ansicht. Gleichwohl: Das ist ein höchst empfehlenswertes Grundbuch von einem exzellenten Kenner. Werber ist Literaturwissenschaftler, das kommt seinem Thema sehr zugute.

Werber zeigt, wie nützlich es ist, wenn man Literatur zu lesen versteht. Er beginnt mit Tolkiens Mittelerde, greift dann auf Gustav Freytags Soll und Haben zurück, und zeigt so exemplarisch, wie geopolitische Konstrukte funktionieren. Ihm geht es um die Genealogie des geopolitischen Diskurses, der sich während des Ersten Weltkriegs formierte. An Friedrich Ratzel, einem kanonischen Vorformulierer, zeigt er, dass für Geopolitiker Raum und Lage keineswegs die Geschichte eines Volkes determinieren, wie oft unterstellt, sondern dass man gut evolutionistisch in der „Schule des Raums“ gelehrig sein soll. Wer das ist, USA und England zum Beispiel, der sei auch erfolgreich. An Grundlagenschriften (Karl Haushofer, Carl Schmitt, Samuel Huntington) arbeitet Werber in exemplarischen Zeitschnitten bis zur jüngsten Gegenwart hin die Grundannahmen und Leitunterschiede der Geopolitiker (Land – Meer, Volk – Raum et cetera) als hochselektive Elemente in der Biologisierung von Staaten heraus. Nicht zuletzt zeigt er, wie viel mehr geopolitische Spekulationen mit Literatur als mit Wissenschaft zu tun haben, zeigt also, warum sie so verlockend waren und immer noch virulent sind.

Vor ein paar Jahren hatte Adam Tooze einen Wälzer vorgelegt, der bahnbrechend die Kriegswirtschaftspolitik des NS-Staats untersuchte, als Ökonomie der Zerstörung in der Lebensraumpolitik nach Osten. Nun untersucht er auf wieder über 700 Seiten die Vorgeschichte dazu, die Jahre 1916 bis 1931, zugleich weit über Deutschland hinaus erweitert, Europa ebenso im Blick wie Asien, insbesondere Japan. Zentriert aber ist das um die USA. Daher auch der Startpunkt 1916, das Jahr, in dem der Krieg in eine Materialschlacht überging, vor allem aber das, in dem die USA Großbritannien ökonomisch überholten – und damit auch militärisch. Tooze rekonstruiert den Beginn des US-amerikanischen Jahrhunderts, den jähen Aufstieg aus dem – späten – Eintritt in den Ersten Weltkrieg zur Supermacht, aber auch das Versagen der Verantwortung der USA, speziell Präsident Wilsons darin, der zwar emphatisch überall demokratische Hoffnungen weckte, die Demokratien und Demokraten dann im Stich ließ. Tooze durchmisst ebenso differenziert wie plastisch das Panorama der Aggressionspotenziale in Europa, insbesondere in Deutschland und Italien, in der Sowjetunion und in Japan, die von den Inflationsjahren bis zur Weltwirtschaftskrise eskalierten und miteinander in der Zerstörung jeglicher demokratischer Ansätze wetteiferten. Die sogenannte Zwischenkriegszeit, zeigt Tooze, bestand aus mindestens zwei geradezu diametral entgegengesetzten Phasen: Eine erste, in der (fast) alle Seiten um internationale Verständigung bemüht waren, und eine zweite, in der die Ansätze dazu nur allzu gründlich zerstört wurden.

Unlängst hat Keith Lowe Europa als einen „wilden Kontinent“ in den anarchischen Jahren zwischen 1943 und 1950 dargestellt, hat Ian Buruma das Jahr 1945 porträtiert als das der „Welt am Wendepunkt“. Ein besonders bizarres Detail darin hat der Militärhistoriker Stephen Harding ausgegraben, wie nämlich ein deutscher Wehrmachtsmajor Anfang Mai 1945 den anrückenden Amerikanern entgegenfuhr, um einen Captain erfolgreich dazu zu bewegen, mit dessen Soldaten und seinen Leuten gemeinsam gegen Einheiten der Waffen-SS vorzugehen, die noch immer kämpften und mordeten. Ziel war die Befreiung des Schlosses Itter im Tiroler Brixental. Das diente als Außenstelle des KZ Dachau. Untergebracht waren dort französische „Ehrenhäftlinge“, etwa die Schwester von de Gaulle und die ehemaligen Premiers Daladier und Reynaud. Die Aktion gelang. Gelungen ist auch das Buch über dieses Ereignis, das mehr ist als nur eine militärische Anekdote aus den letzten Tagen des Irrsinns. Nämlich eine Studie zum Entscheidungs- und Handlungsspielraum des Einzelnen auch in solchen Zeiten.

Info

Geopolitik zur Einführung Niels Werber Junius 2014, 208 S., 14,90 €

Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916 – 1931 Adam Tooze Siedler 2015, 720 S., 34,99 €

Die letzte Schlacht. Als Wehrmacht und GIs gegen die SS kämpften Stephen Harding, Andreas Wirthensohn (Übers.) Zsolnay 2015, 320 S., 24,90 €

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