Gestern noch geimpft, heute wieder ungeimpft: Dies könnte bald auch für Bürger ohne Auffrischungsimpfung gelten. Nicht-Geboosterten drohen dann ähnliche Einschränkungen wie Ungeimpften. Für die Linkspartei eine Chance, endlich Opposition zu sein gegen die willkürliche Einteilung von Bürgerinnen und Bürgern anhand ihres Impfstatus. Doch die Erfahrungen der vergangenen Jahre zeigen: Die polarisierenden Themen wechseln, der Ton der Auseinandersetzungen wird schärfer, und die Linkspartei ist jedes Mal mittendrin statt nur dabei. Suggeriert wird, es gehe um die Verteidigung der Demokratie gegen „die“ Demokratiefeinde. Die Existenz der rechten AfD scheint hier beinahe schon dienlich zu sein, schenkt man ihr doch seit 2015 die dankbare Rolle eines Gradmessers für demokratische und antidemokratische Positionen.
Gängige Alltagserfahrung für viele Menschen in der Bundesrepublik ist das dumpfe Gefühl, nicht maßgeblich über das eigene Leben verfügen zu können. Preise für Güter des täglichen Bedarfs steigen, Versicherungsbeiträge und weitere Ausgaben kennen nur eine Richtung, während Lohn und Leistungen des Sozialstaats weitestgehend stagnieren. Wessen Kontostand am Ende des Monats regelmäßig an der Null kratzt oder gar den Dispobereich schon länger nicht verlassen hat, für den sind psychosomatisch bedingte Verdauungsbeschwerden oder Schmerzen ständiger Begleiter. Angesichts wiederkehrender latenter Ohnmachtserfahrungen gegenüber der eigenen Lebensrealität, wie das Gefühl trotz Arbeitens bis zum Umfallen den Kindern nur wenig bieten zu können oder trotz Achtsamkeits-App ständig ausgebrannt zu sein, können abrupte gesellschaftliche Veränderungen als immer neue Androhung von Fremdbestimmtheit wahrgenommen werden.
Gendern und Moralisieren
So können auch Sprachregelungen zum Gendern, insbesondere ihre Übernahme im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, von weiten Teilen der Bevölkerung etwa als Fremdbestimmung durch gut qualifizierte, meist universitär ausgebildete Beschäftigte in Medien und Politik wahrgenommen werden. Mittels verbaler Ausdrucksform vor Ausgrenzung schützen zu wollen, ist ein ehrbares Anliegen, resultiert jedoch nicht in weniger Ausgrenzung, sondern lediglich in einer Katalogisierung von unterdrückten Menschengruppen, die unterschiedlich arm dran sind. Die dumpfe Wahrnehmung, dass durch moralische Appelle und politisch korrektes Reden reale Ausbeutungsverhältnisse nicht angetastet werden, kann unter den Umständen eingeschränkter gesellschaftlicher Teilhabe heftige Ablehnung hervorrufen.
Auch die einhellige Diffamierung derer, die in der widerspruchsvollen Pandemiepolitik der Bundesregierungen viel Symbolpolitik sehen, als „Leerdenker“ und „Schwurbler“ vertieft den Graben zwischen denjenigen einerseits, die durch die spezifischen Charakteristiken ihrer Berufstätigkeit eine gewisse Entlastung in Homeoffice und Lockdowns sehen und keine substantiellen Lohneinbußen erlitten haben, und denen andererseits, die materiell stärker getroffen sind und in neuen Kontaktbeschränkungen sowie sonstigen Maßnahmen neuerliche Angriffe auf die Gestaltungsmöglichkeiten des eigenen Lebens sehen. Erst der heftige Konformitätsdruck in der Coronaviruspandemie hat etwa die fehlende Impfbereitschaft zum symbolischen Mittelfinger gegen Obrigkeit und veröffentlichte Meinung gemacht. Hinter dem, was häufig als Trotz beschrieben wird, steht womöglich eine subjektive Wahrnehmung, nach der das Verweigern der Impfung eine Möglichkeit des Heimzahlens vieler Jahre Gängelung und damit einen kleinen Moment wahrgenommener Selbstwirksamkeit darstellt, der sogar über die realen Einschränkungen nicht Geimpfter erhaben macht.
Unter dem Vorwand, alle einbeziehen zu wollen und solidarisch mit den Schwächsten zu sein, werden faktisch Menschen ausgeschlossen, die es offenbar nach mehr Teilhabe, mehr Gestaltungsraum und mehr Handlungsfähigkeit dürstet. Wer artifizielle Spaltungslinien weiter konturiert, weicht der tatsächlichen und immer größer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich aus, die am unteren Ende der Gesellschaft die beschriebenen Ohnmachtsgefühle erst erzeugt. Zehn Prozent der Deutschen konzentrieren satte zwei Drittel des gesamten Vermögens in der Bundesrepublik in ihren Händen. Diese Vermögensverteilung ist Ergebnis politischer Entscheidungen. Die Regierungen der vergangenen drei Jahrzehnte haben sich der Vermögenssteuer entledigt, in der Bundesrepublik einen beschämenden Niedriglohnsektor geschaffen und etwa mit den Cum-Ex-Verbrechen den größten Steuerraub der deutschen Geschichte ermöglicht.
Kein Arbeitslosengeld für Ungeimpfte?
Jahr für Jahr erhöhen deutsche Parlamentarier ihre eigenen Bezüge, während die Löhne weiter Teile der Beschäftigten sowie Erwerbslosenbezüge der Inflation hinterherrennen. Wer das Vertrauen darin verloren hat, dass die Politik im Sinne der Mehrheit der Bevölkerung handelt, der ist weder Verschwörungstheoretiker noch rechts oder Antidemokrat, sondern nimmt einen grundlegenden Zusammenhang der gegenwärtigen Verfasstheit unserer vielbeschworenen Demokratie wahr: Geld regiert die Welt. Es ist die obszöne Konzentration des gesellschaftlich produzierten Reichtums in wenigen Händen, die die Demokratie gefährdet, nicht die Bürger, die das Auseinanderklaffen der Schere zwischen Arm und Reich und all die damit einhergehenden Widersprüche und Schikanen täglich erkennen.
Solche Bürger zu diffamieren und sich vorsorglich von ihnen abzugrenzen, bedeutet nicht die Demokratie zu verteidigen, sondern sie zu konterkarieren, denn die soziale Basis für faschistoide Politik wächst mit dem Lager der Ausgegrenzten. In all ihrem Eifer „gegen rechts“ greift die Linksparte bisweilen nur noch die Phänomene gesellschaftlicher Verwahrlosung an, deren Ursache jedoch bestenfalls noch mit Hinweisen auf diesen oder jenen Vorstandsbeschluss. Als im Herbst das Recht auf Entschädigung bei behördlich angeordneter Quarantäne für einen Teil der Bevölkerung eingeschränkt wurde, gab es sogar innerhalb der Linkspartei Zuspruch. Dabei muss jedem klar sein, dass dies nur die Blaupause war für weitere Angriffe auf unsere Arbeitnehmerrechte. Das zeigt sich in den neuen Diskussionen darum, ob der Bezug von Arbeitslosengeld für Ungeimpfte gestrichen werden soll. Während all dies von einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung diskutiert wird, ist die Linkspartei unangenehm schweigsam. Die Linkspartei muss sich im Klaren sein: Jeder Angriff auf die Rechte der Lohnabhängigen wird auf lange Sicht die Stellung der arbeitenden Bevölkerung in der Auseinandersetzung um die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums schwächen. Es muss daher Schluss sein mit den spalterischen Ablenkungsmanövern anhand konstruierter moralischer Bürgerpflichten. Der Streit um die Demokratisierung der Arbeitswelt und damit der Lebensrealität von Millionen muss wieder prioritäre Praxis in der Linkspartei werden, wenn sie eine Zukunft haben will.
Mit der Lage der Linkspartei haben sich zuletzt deren direkt gewählte Bundestagsabgeordnete Gesine Lötzsch und der junge Ökonom Moritz Gailus befasst.
Kommentare 18
Wahre Worte.
Aber solange die Linkspartei jede Giffey schluckt, nur damit Lederer und Kipping ein Senatorenpöstchen bekommen, ja solange wird sie nicht der Ansprechpartner derjehnigen sein die eine LINKE POLITIK brauchen.
Ich schließe mich zustimmend dem ersten Kommentar an: Wahre Worte!
"Mittels verbaler Ausdrucksform vor Ausgrenzung schützen zu wollen, ist ein ehrbares Anliegen, resultiert jedoch nicht in weniger Ausgrenzung, sondern lediglich in einer Katalogisierung von unterdrückten Menschengruppen, die unterschiedlich arm dran sind."
Katalogisierung, genau. Wie treffend formuliert. Aber was fehlt im Katalog? "Einfach nur" materiell arm und benachteiligt zu sein, obwohl man weißer Hautfarbe und heterosexuell ist und Deutsch als Muttersprache hat. Es ist nicht nur eine "dumpfe Wahrnehmung", dass "reale Ausbeutungsverhältnisse nicht angetastet" werden sollen, sondern genau das liegt glasklar auf dem Tisch.
dialektische anmerkung:
nur wer in einer regierungs-koalition ist,
kann sie auch platzen lassen/von innen be-einflussen.
ob das sympathien für die links-partei schafft, ist eine andere
frage.
und noch welche, die sich ergeben:
ist um-verteilung das haupt-ziel der linken ?
und die stärkung der individuellen kauf-/konsum-kraft ?
und geht der kampf: um entschädigungen
für nicht-gelebtes leben?
auch steinbruch-reste, blöck-chen lassen sich noch spalten...
und das ziel einer "par-tei" ist:
spaltung einer vorgeblichen gemein-anstrengung/bewegung,
die bedürfnisse einer partei-klientel minder-achtet.
parteien haben neben dem aufbauenden immer etwas
destruktives.
das sich auch, nicht selten, gegen partei-mitglieder richtet...
Die, die sich der abgehobenen Abgrenzung widersetzen werden ausgegrenzt. Es ist Symbolpolitik zur Verschleierung der laufenden Unterwanderung durch Einflussagenten, die bei den GRÜNEN bereits abgeschlossen ist. Die alleinerziehenden aufstockenden Mütter u.a. Prekäre lassen sich dann lieber von Rattenfängern abwerben. Sahra Wagenknecht und Albrecht Müller haben die Zustände in der LINKEN und vielen NGO's richtig analysiert. Und jetzt?
Muss das Un-Wort des Jahres werden : Schwurbeln. Eine Erfindung der MSM (Main-stream-media) um jede Kritik oder Skepsis zu ersticken. Divide and conquer. Cancel culture im Reinformat. Auch die Linke ist kraeftig darauf reingefallen, lesen Sie bitte Kommentare und urteilen Sie selbst.
>>Aber solange die Linkspartei jede Giffey schluckt, nur damit Lederer und Kipping ein Senatorenpöstchen bekommen...<<
Das dürfte Regionalpolitik sein. "Wer ist Lederer?", wird jede Pfälzerin fragen.
Ich weiß nicht, in welchem Teil Deutschlands du lebst. Ich bin mir jedoch fast sicher, dass du niemanden aus RLP kennst, der Linken-Politik macht. Mir als Pfälzer Wähler jedenfalls fällt niemand ein.
Mit anderen Worten: Die Linkspartei spielt in BaWü, Bayern und RLP keine Rolle, weil diese Partei nicht willens oder nicht in der Lage ist, in diesen Ländern eine politische Struktur aufzubauen. Der Hauptstadt-Blick, den viele Autoren und Politik-Analystinnen pflegen, ist ungefähr so eng wie ein Trinkhalm.
Nee - das "Wort des Jahres"
und die "phrase des jahres" ? :
"das darf doch nicht wahr sein!"
Gibt's denn für die "Phrase..." auch einen Preis?
Nichts geschnallt, oder? Artikel nicht gelesen, Kopf im Sand...
Hey. warum die Aufregung? Das Wort geht doch so leicht über die Lippen und sogar das Verb lässt sich gut verwenden. Steht sogar im Duden.
I have nothing but confidence in you. And very little of that.
Siehe unten
Vielen Dank, Frau Raji. Ihr Text sollte im Briefkasten bzw. E-Mail-Postfach aller Linken-Mitglieder landen.
"Wer artifizielle Spaltungslinien weiter konturiert, weicht der tatsächlichen und immer größer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich aus, die am unteren Ende der Gesellschaft die beschriebenen Ohnmachtsgefühle erst erzeugt."
Könnte Bestandteil der Präambel einer - neu zu gründenden? - Linkspartei sein.
sol wohl heissen., ZUVIOE TODfeodnl SPALET IN DRE LINMKSpatze AM ZU Z ERFPGREICJ WERKE. WR nvcoh von igeeon GEHREIMdiest ein ultrageheimes "mandat" hat flieg!
Zufällig bin ich gebürtiger Pfälzerer, lebe in Brandenburg und arbeite in Berlin - quasi bin ich der Kosmopolit in deutschen Landen.
Noch zufälliger kenne ich in RLP Linkenmitglieder.
Aber Du hast schon Recht mit dem "Hauptstadtblick"
Ich hab' jetzt mal auf der Website der RLP-Linkspartei nachgeschaut. Das Vorsitzendenduo heißt Melanie Wery-Sims und Stefan Glander. Nie davon gehört.
Gewählt wurden sie am 30. Oktober 2021. Unter ihrem jeweiligen Portrait stehen als Kontaktdaten die Email-Adressen. Dann steht da noch, und das ist bezeichnend, "Tel.: folgt". Heute haben wir den 20.02.22!!!
In diesem Artikel fehlt etwas. Es fehlt die Möglichkeit, dass Maßnahmenkritiker Sachgründe haben könnten, spezielle oder auch alle Corona-Maßnahmen abzulehnen. Hatte vielleicht ja doch jemand vorgehabt, nicht geimpfte Menschen zu diskriminieren? Eine Impfpflicht einzuführen? Internationale Impfpässe mit weltweit einmaliger Identifikationsnummer einzuführen? Sind Stoffmasken vielleicht doch nicht effektiv? Kommt Corona vielleicht doch aus dem Labor? Verursachen Lockdowns vielleicht doch mehr Schaden als Nutzen? Und wenn man das Geld, dass die Lockdowns und Beschränkungen gekostet haben, den Armen und den Schulen und den Pflegekräften gegeben hätten, hätte sich das besser oder schlechter auf die langfristige Sterblichkeit ausgewirkt? Und bringen die Corona Impfungen vielleicht doch mehr Schaden als Nutzen für Kinder? Für Jugendliche? Für eher junge Menschen? Für alle Menschen?
Kann sich eine Frau, die mit einem einser-Abi ein Hochschulstudium erfolgreich abgeschlossen hat, vielleicht trotzdem bei Sachfragen irren - und es geht gar nicht ausschließlich um die Persönlichkeit oder die Lebensumstände anders Denkender?