Die Logik des Gesichtsverlusts

Ai Weiwei und Hu Jia Für China ist Ai Weiwei ein missratener Sohn, der den Ruf seiner Eltern beschmutzt. Der Staat will sein Gesicht wahren - mit Taktiken, die das Gegenteil bewirken

Das Gesicht hat in China eine besondere Bedeutung. Gesichter sind nicht einfach da. Sie können verloren, gewahrt oder auch gegeben werden. Wer Gesicht hat, der zählt etwas und hat eine gehobene Stellung in der Gemeinschaft. Ein Mensch verliert sein Gesicht, wenn er Fehler macht oder die Erwartung der anderen, mit denen er durch das Blut, den Beruf oder die Nationalität verbunden ist, nicht erfüllt: Ein Schüler, der gegen seinen strengen Lehrer rebelliert, verliert nicht nur das eigene Gesicht. Auch den Eltern droht ein Ansehensverlust im Familien- und Bekanntenkreis. Ihr verlorenes Gesicht können sie aus eigener Kraft nicht wiederherstellen, es bedarf eines Dritten, der die Situation der „unharmonischen“ Familie geraderückt. Diese Person gibt Gesicht und trägt dazu bei, dass die Familie in der Öffentlichkeit wieder positiv dasteht – trotz des missratenen Sohnes.

Ai Weiwei ist so ein missratener Sohn. Mit seinen Blogs und öffentlichen Äußerungen zur fehlenden Modernität Chinas, zu Menschenrechtsverletzungen, zur Beschränkung von Künstlern und weiteren Themen hat er den Ruf seiner Eltern, des Staates China, beschmutzt und einen Gesichtsverlust in der Welt­öffentlichkeit veschuldet. Nun heißt „Staat“ in China „Land-Familie“ (guojia), und wer in diese Familie hineingeboren wird, der hat Sohn- oder Tochterpflichten. Wer sie nicht erfüllt, wird bestraft. Aber Kritik lässt sich schwer bestrafen. Also kamen die verletzten Eltern auf die Idee mit der Steuerhinterziehung.

Sie entspricht der Taktik des „Gesichtwahrens“: Ein guter Staatsbürger muss Steuern zahlen – dem würde jede Regierung zustimmen. Dumm nur, dass die Weltgesellschaft den Vorwand verstand und argwöhnte, man strafe den Sohn in Wahrheit für seine individuelle Ansicht und Dickköpfigkeit. Gerade dieses Verhalten aber schätzt die Weltgesellschaft als Wert und schmückt es mit Begriffen wie Meinungsfreiheit und Demokratie. So blieb Chinas Gesicht verloren – und muss nun wieder gegeben werden. Es folgten logische Schritte: Ai Weiweis Freilassung war der erste, aber kein hinreichender Schritt. Also setzte man auf einen zweiten: die Entlassung des Menschenrechtsaktivisten Hu Jia am Samstag. Aber auch dieser zweite Schritt reichte nicht. Die westliche Presse hat in beiden Fällen – Ai Weiwei wie Hu Jia – erneut Kritik geübt. In China muss sich nun derjenige, der die Familie beschädigt hat, in Schweigen und Demut hüllen, um zu sühnen. Einst folgte daher die Verbannung des Aufmüpfigen – heute heißt das Pendant Hausarrest.

Die volle Herstellung des Gesichts erhofft sich die Familie jetzt durch ihren größten Gesichtgeber: Den Volkstribun Wen Jiabao, seines Zeichens auch Ministerpräsident im hohen Familienrat. Wen hat der Familie schon oft das Gesicht wiedergegeben, etwa, als sich Söhne und Töchter nach dem Erdbeben 2008 in Sichuan und davor, während des Katas­trophenwinters, verlassen fühlten. Wen soll nun auch in der Weltgesellschaft die Wogen glätten. Er funktioniert durch seine Menschlichkeit, die manche als Schauspiel, viele als ehrlich empfinden. Aber „egal ob die Katze schwarz oder weiß ist, Hauptsache, sie frisst Mäuse“, (Deng Xiaoping, 1904–1997). In einer westlichen Welt des ökonomischen Niedergangs wird der wohlhabende Wen nicht unwillkommen sein. Ob er China sein Gesicht zurückgeben kann, bleibt dennoch zweifelhaft. Weitere Anstrengungen auf dem Weg zur Weltspitze werden folgen müssen.

Marcus Hernig lebt in Shanghai und lehrt an der Zhejiang Universität in Hangzhou

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