Die Lüge als Chance

Literatur In seiner Ich-Erzählung sucht das französische Wunderkind Édouard Louis eine Heilung vom Sprachverlust
Ausgabe 33/2017
Édouard Louis versucht zu erzählen, was eigentlich unerzählbar bleibt
Édouard Louis versucht zu erzählen, was eigentlich unerzählbar bleibt

Foto: Joel Saget/AFP/Getty Images

Sein Debütroman, Das Ende von Eddy, war ein internationaler Bestseller. Erst 20 Jahre alt war der Soziologiestudent, als er zum Shootingstar der französischen Literaturszene avancierte. Hier erzählte uns Édouard Louis von einer bedrückenden Kindheit und Jugend auf dem nordfranzösischen Land, von Frustrationen, alltäglichem Rassismus und Sexismus der Dorfbewohner und von der Gewalt, der ein junger Homosexueller in dieser Umgebung ausgesetzt ist. Eddys Geschichte, sie liest sich wie die literarische Ausarbeitung zur autobiografischen Analyse Rückkehr nach Reims von Didier Eribon, deren Attraktivität für viele genau darin liegt, dass hier jemand in ein Milieu zurückkehrt, dem er als Jugendlicher unbedingt entkommen wollte.

Édouard, Ich-Erzähler aus Im Herzen der Gewalt, hat das geschafft – zumindest oberflächlich. Er studiert in Paris, hat Freunde, wird akzeptiert. Doch dann kommt die Nacht nach dem Weihnachtsessen, in der er auf der Straße von einem jungen Mann angesprochen wird. Édouard nimmt ihn spontan mit nach Hause. Von dieser Nacht, die mit einem Flirt beginnt und in Gewalt endet, zu erzählen, das ist Krux und Thema des Buches. Wie erzählen, was eigentlich unerzählbar bleibt? Das beginnt mit dem Morgen danach, mit Ekel und Waschzwang, doch auch nach Beschreibung aller Reinigungsmittel fehlen die Worte. Und so werden sie ab jetzt in den Mund der Schwester gelegt, die die Geschichte jener Nacht ihrem Ehemann berichtet, einem Lastwagenfahrer, der im ganzen Buch gerade einen Satz spricht. Clara, Édouards Schwester, ist in der nordfranzösischen Picardie geblieben, in jenem Provinznest, aus dem „Eddy“ entflohen war. Jetzt kehrt er zurück und besucht sie. Clara spricht, wie ihr der Schnabel gewachsen ist – eine ganz andere Sprache, als Édouard sie in Paris kennengelernt hat. Ihr Redefluss, durchmischt mit Anekdoten, teilt freilich nicht mit, was geschehen ist – wie könnte sie das auch wissen? –, sondern eigene Meinungen dazu und zum Verhalten des Bruders. Der steht hinter der Tür und lauscht. In Gedanken beginnt er, sich in ihre Erzählung einzumischen. Denn es geht um seine Geschichte, darum was in jener Nacht passiert ist, wie und ob man es jemals so erzählen kann, wie es war. Was sagt man Polizeibeamten, Ärzten, besten Freunden? Wie erzählt man von der eigenen Angst, wenn man sich im Augenblick jener Angst fern der Sprache befand und der Ausspruch „Ich hatte Angst“ dagegen „immer machtlos bleiben“ wird?

Je mehr die Sprache zurückkehrt, desto mehr geht es auch um die Möglichkeit der Lüge, darum, so sagt Hannah Arendt im Buch, „die Welt zu verändern und in ihr etwas Neues anzufangen“. Die Lüge als Chance zur Heilung, vielleicht die einzige. Indem Édouard das erkennt, findet er zurück zur Sprache, lässt die Schwester verstummen, bringt die Erzählung zu Ende: Die Vergewaltigung, Gänge ins Krankenhaus und zu diversen Polizeirevieren, das alles erzählt die Stimme Édouards auf den letzten Seiten, distanziert, einen Punkt hinter das Geschehene setzend. Das Buch endet mit einem langen Zitat von Imre Kertész, wo es heißt: „Es zeigt sich, dass ich nicht schreibe, um Freude zu finden, sondern dass ich, im Gegenteil, mit meinem Schreiben den Schmerz suche, den größtmöglichen, beinahe schon unerträglichen Schmerz, ja, das ist wahrscheinlich der Grund, denn der Schmerz ist die Wahrheit, auf die Frage jedoch, was Wahrheit ist, schrieb ich, gibt es eine einfache Antwort: Wahrheit ist das, was mich verzehrt.“

Info

Im Herzen der Gewalt Édouard Louis Hinrich Schmidt-Henkel (Übers.), S. Fischer 2017, 224 S., 20 €

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