Die Lungen des "erwählten Volkes" sind rein

Blitzkrieg gegen den Krebs Im Gespräch mit Oliver Hochadel gibt der US-amerikanische Medizinhistoriker Robert N. Proctor Auskunft über die "Modernität" der NS-Medizin

Vergangene Woche ging in Berlin der Deutsche Krebskongress zuende, auf dem wahrscheinlich niemand darüber geredet hat, dass es ausgerechnet die Nationalsozialisten waren, die das Krebsrisiko von Tabakgenuss erkannten. Der bekannte Historiker Robert N. Proctor hat diese Tatsache recherchiert und ist zu dem verstörenden Befund gelangt, dass die reinliche Scheidung in "gute" demokratische und "böse", unter den Bedingungen der Diktatur arbeitende Wissenschaft nicht haltbar ist. In Deutschland provoziert dies Ängste, und so hat sich erst nach 22 Ablehnungen ein Verlag gefunden, der Proctors Buch verlegen wollte.

Unser Führer" - so verriet Reichsjugendführer Baldur von Schirach in seinem Buch Hitler, wie ihn keiner kennt - "trinkt keinen Alkohol und raucht nicht". Aber das galt erst für die späteren Jahre. Noch in seinem Wiener Lotterleben vor dem Ersten Weltkrieg hatte Jung Adolf täglich bis zu vierzig Zigaretten gepafft. Hätte er die Glimmstengel nicht eines Tages in die Donau geworfen, wäre es nicht zur "Wiedergeburt Deutschlands" unter seiner Regie gekommen, philosophierte er 1942.
Mit der Inbrunst des Bekehrten hatte Hitler schon vor dem Krieg zur "Befreiung der Menschheit von einem ihrer gefährlichsten Gifte" aufgerufen. Bis 1934 hatte die SA mit Zigarettenmarken wie "Sturm", "Alarm" oder "Trommler" dicke Summen verdient. Doch dann wurde das Rauchen zum Laster "minderer Rassen" erklärt. So mobilisierte Hitler die Forschung gegen das Rauchen und spendete 1941 sogar 100.000 Reichsmark aus der Kasse der Reichskanzlei zur Gründung des Instituts zur Erforschung der Tabakgefahren in Jena.
Bereits 1939 war es dem jungen Kölner Mediziner Franz Hermann Müller erstmals gelungen, den kausalen Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs durch detaillierte pathologische Fallstudien festzustellen und epidemiologisch zu untermauern. Fritz Lickint, trotz sozialdemokratischer Vergangenheit wegen seiner Forschungen von Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti protegiert, konnte zeigen, dass Tabaksqualm auch Nichtraucher schädigt und prägte den Begriff des Passivrauchens. In anderen Ländern war die Forschung frühestens in den Fünfziger- und Sechzigerjahren so weit.
Das "Dritte Reich" betrieb bereits Ende der Dreißigerjahre "Weltklasseforschung", wie Robert Proctor in seinem dieser Tage erscheinenden Buch Blitzkrieg gegen den Krebs behauptet. Das klingt nach einer Provokation. Weltklasseforschung bei den ideologisch verblendeten Nazis, die ganze Wissenschaftszweige wie die Psychoanalyse und für einige Zeit auch die Relativitätstheorie unterdrückten, weil sie als "jüdisch" galten?
Im Gespräch wird Proctor, Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Pennsylvania State University, nicht müde zu betonen, dass er dadurch die Verbrechen der NS-Wissenschaft in keiner Weise relativieren oder gar rechtfertigen wolle: "Ich will nicht das Gute gegen das Schlechte aufwiegen." Proctor geht es um etwas anderes: Unser gern gehegtes, zweigeteiltes Bild von der "guten", demokratischen Scientific Community und der "schlechten", ideologisch verblendeten Wissenschaft totalitärer Regime sei nicht länger haltbar. Die deutsche Krebsforschung sei nicht trotz, sondern wegen der besonderen Bedingungen des NS-Regimes so erfolgreich gewesen. Gemeint ist der Gesundheits- und Körperkult.
"Die Nazis fürchteten kleinste Wirkstoffe, die den ›Volkskörper‹ infiltrieren: Asbest, Blei, Arsen, Quecksilber und Tabak ebenso wie Juden und ›Zigeuner‹", zählt Proctor auf: "Hitler und seine Anhänger waren besessen von körperlicher Reinheit und wollten ein exklusives, sanitäres Utopia errichten, wo das Wasser, die Arbeit und die Lungen des ›erwählten Volkes‹ rein sind.
Auch in der Suchtforschung, in der Arbeitsmedizin und bei den Sicherheits- und Gesundheitsstandards in Fabriken und Werkstätten setzte das "Dritte Reich" laut Proctor Maßstäbe: "Nazideutschland war die meist geröntgte Nation der Welt. Ohne die zentrale Stellung von Wissenschaft und Technik kann man das NS-Regime nicht verstehen." Hitler sagte einmal, er könne das "Tausendjährige Reich" ohne Buchhalter und Juristen errichten, aber nicht ohne Mediziner und meinte damit vor allem die "Rassenpolitik".
"Die Nazis sahen das ›Rassenproblem‹ als Problem von ›Verschmutzung‹ und ›Kontaminierung‹", so Proctor. Rauchen konnte somit in Nazideutschland keine Privatsache sein, Tabak galt als "Volksfeind". Karl Astel, Rektor der Universität Jena und fanatischer Nichtraucher, war bekannt dafür, Studenten die Zigaretten aus dem Mund zu reißen, und erließ 1940 ein universitätsweites Rauchverbot. Die Nazis erfanden das Nichtraucherabteil im Zug, verboten Zigarettenautomaten und schränkten die Tabakwerbung massiv ein: Es durften keine Athleten, keine sexuell konnotierten Bilder und keine Frauen auf den Plakaten auftauchen. Aggressive Aufklärungskampagnen - öffentliche Vorlesungen, Plakate, eigene Zeitschriften wie "Reine Luft" und "Auf der Wacht" -, rauchfreie Zonen in Postämtern oder Parteibüros sowie sehr hohe Tabaksteuern sollten dem "deutschen" Menschen das Rauchen austreiben.
Die Erfolge der NS-Antiraucherpropaganda waren freilich begrenzt. Der Anteil der rauchenden Männer stieg aufgrund des Kriegsstresses sogar. Nur widerwillig ließ sich Hitler überreden, den Soldaten das Rauchen zu erlauben. Nach dem "Endsieg" sollte aber Schluss sein mit dem Gequalme.
Anders bei den Frauen, die, da für die "Reproduktion" zuständig, das Hauptziel der Kampagnen waren: "Die deutsche Frau raucht nicht!". "Wenn der Anteil an rauchenden Frauen so stark gestiegen wäre wie in den USA, wären in der Nachkriegszeit mindestens 20.000 deutsche Frauen mehr an Lungenkrebs gestorben", rechnet Proctor vor, führt dies aber weniger auf die Antitabakkampagnen als auf den Krieg und die Verarmung zurück. In Deutschland fiel der Tabakverbrauch zwischen 1940 und 1950 pro Kopf um die Hälfte, in den USA verdoppelte er sich im selben Zeitraum.
"Das Thema ist in einer ideologischen Lücke gelandet", sagt Proctor. Zu sagen, Rauchen sei krebserregend, das wussten schon die Nazis, war für Gesundheitsaktivisten kein brauchbares Argument. Medizinhistoriker, darunter auch Proctor selbst, haben sich bisher immer nur für die kriminelle Seite der NS-Medizin interessiert: Menschenversuche, Euthanasie, Sterilisation. Die Siegermacht USA pickte sich nach 1945 die militärisch verwertbaren Aspekte der NS-Wissenschaft heraus: die biologische Kriegsführung und die Raketenforschung. Die Antikrebsforschung wurde nicht rezipiert, weil sie nicht von strategischer Bedeutung war. Die USA schifften statt dessen 1948/49 90.000 Tonnen Tabak als Teil des Marshall-Plans kostenlos nach Deutschland ein.
"Niemand konnte Interesse daran haben, diese Geschichte zu erzählen, also hat sie niemand erzählt", resümiert Proctor, selbst überzeugter Nichtraucher, Antitabakaktivist und Sachverständiger in Prozessen gegen Philipp Morris und andere Konzerne. Aber sind seine Ergebnisse nicht ein gefundenes Fressen für die Zigarettenhersteller, die Tabakgegner gerne als "Nikonazis" diffamieren? "Eine Lektion aus der Nazizeit ist, dass sogar ein dermaßen totalitärer Staat nicht in der Lage war, gegen eine mächtige Tabakindustrie zu gewinnen. Es braucht demokratische Maßnahmen, um gegen diese Händler des Todes vorzugehen."
Proctors Buch erscheint dieser Tage auf Deutsch - nachdem nicht weniger als 22 deutsche Verlage das Manuskript abgelehnt hatten. "Sie glaubten, dass sie kein Buch veröffentlichen könnten, das die Nazis, wenn auch nur vermeintlich, in einem guten Licht erscheinen ließe." Proctor sieht das anders: "In Wahrheit ist die NS-Zeit viel erschreckender, wenn wir verstehen, wie ähnlich uns die Nazis in ihrer ›Modernität‹ sind."

Robert N. Proctor: Blitzkrieg gegen den Krebs. Gesundheit und Propaganda im Dritten Reich. Stuttgart 2002, Klett-Cotta-Verlag. 440 S., Euro 25,50

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