Diskursbegründer Robin Detje beschreibt in "Provokation aus Prinzip" Frank Castorfs unaufhaltsamen Aufstieg zu einem der wichtigsten zeitgenössischen Regisseure
Frank Castorf hat mein Leben verändert: Hätten er und sein Ensemble nicht vor beinahe zehn Jahren die Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz übernommen, wäre mein Interesse für Theater wahrscheinlich völlig erlahmt. Erst recht hätte ich mir nicht vorstellen können, jemals am Theater zu arbeiten. So aber gab es Anfang der Neunziger in Berlin plötzlich ein Theater, das für einige Jahre zu so etwas wie einem intellektuellen und lebensgefühlstechnischen Orientierungspunkt wurde. Die Volksbühne hatte vor allem in den Anfangsjahren eine ungeheure Kraft zu polarisieren. Man ging ins Theater und stellte überrascht fest, dass es da um etwas ging, um politische Inhalte und ästhetische Positionen, über die es sich zu streiten
ten lohnte. Dazu gehörte auch ganz entscheidend, dass ein jüngeres, nicht bildungsbürgerliches Publikum nicht von der Partizipation am ästhetischen Genuss ausgeschlossen wurde. Übertrieben gesagt, hatte es bis dahin ja nicht gereicht, ein Stück gelesen zu haben, um sich auf einen Theaterabend vorzubereiten, sondern man konnte eigentlich nur auf seine Kosten kommen, wenn man wenigstens noch die wichtigsten Inszenierungen der wichtigsten Regisseure der letzten zwanzig Jahre dieses Stücks kannte, um den ästhetischen Clou einer aktuellen Inszenierung beurteilen zu können. Das Auftauchen von Frank Castorf in der wiedervereinigten Berliner Theaterlandschaft, hatte in dieser Hinsicht in etwa den Effekt, den der Wechsel im Mathematikunterricht von Algebra zu Analysis darstellt: Wer bis zur 10. Klasse nichts verstanden hatte, bekam mit der Differential- und Integralrechnung eine neue Chance einzusteigen. Mit Foucault gesprochen, ist Castorf in seinem Metier so etwas wie ein Diskursbegründer. Mit allen unangenehmen Nebeneffekten übrigens, die eine solche Vorreiterrolle für seine Schüler und Anhänger mit sich bringt: während die einen Mühe haben, mit ihren eigenen Arbeiten nicht als schlechte Kopie des Originals zu gelten, sind die anderen nahezu unfähig, sich mit anderen ästhetischen Konzepten anzufreunden. Wer die Volksbühne liebt, wird sich für Ostermeiers Schaubühne oder Peymanns Berliner Ensemble zum Beispiel nur schwer begeistern lassen.Lässt sich das Phänomen Castorf, dessen Darstellung Robin Detje jetzt in einem Buch unternommen hat, erklären? Detje, Literatur- und Theaterkritiker westdeutscher Herkunft mit Schauspielausbildung und theaterpraktischer Erfahrung, knapp 15 Jahre jünger als Castorf, nähert sich seinem Gegenstand mit einer interessanten Mischung aus unverhohlener Bewunderung und analytischer Distanz. Das Buch ist eingeteilt in die Hauptkapitel "OST" und "WEST", was in der chronologischen Anlage des Buches die historische Zäsur des Mauerfalls markiert. Gleichzeitig wird etwas unglücklich bis in die Typografie das Markenzeichen der Volksbühne zitiert, aber gänzlich ohne den ironischen, spielerischen Umgang, den das Theater mit diesem Label treibt, was zumindest verkennt, dass "OST" auch die Richtung einer Sehnsucht kennzeichnet.So wird man aber immerhin überdeutlich auf die Perspektive aufmerksam, aus der das Buch geschrieben ist und mit der der Autor auf Castorfs Zeit in der DDR blickt. Es ist der Blick vom glücklichen Ende her, vom Höhepunkt des Castorfschen Ruhms, unter dem sich die biografischen Fakten aus Kindheit, Jugend, Studium, den Theateranfängen in der Provinz, den Schwierigkeiten mit der Stasi und diversen Theaterleitungen zu einer im nachhinein logisch und konsequent erscheinenden Entwicklungsgeschichte fügen. The making of Frankie Superstar. Das liest sich äußerst unterhaltsam, führt in Detjes Nacherzählung der Castorfschen Lebensabschnitte aber immer wieder zu bedeutungsschwangeren Vorgriffen auf die Zukunft: "Aus den gemalten Pappkulissen von Kindheit und Jugend, deren Zusammensturz er immer wieder neu inszenieren wird, zieht er schwer bewaffnet hinaus in die Welt." Und gelegentlich verleitet die Suche, um nicht zu sagen Sucht nach Erklärungen für die Castorfsche Erfolgstory auch zu Spekulationen: "Wären der Bühnenkunst dort, wo er groß geworden ist, religiöse Züge erlaubt gewesen, hätte er sich zum vollgültigen Theaterguru entwickeln können." Detje, der ja selbst nicht dabei war, hat gründlich recherchiert und vor allem wird er sich unendlich viele Geschichten erzählt haben lassen, von Castorf selbst und von Leuten aus Castorfs Nähe, um zu einer derart intimen Nahsicht auf den Werdegang des Regisseurs und Theaterleiters zu gelangen. Und man erfährt indirekt auch, wer besonders gern und ausführlich mit dem Autor geplaudert hat. Ohne Gabriele Gysi etwa, Castorfs Weggefährtin in Senftenberg und Anklam, Schauspielerin, Regisseurin und die Schwester von Gregor Gysi, der Castorf als Anwalt helfend unter die Arme griff, wäre das vierte Kapitel sicherlich nicht eines der Highlights in diesem Buch. Gabriele Gysis Rolle beschreibt Detje als "Mutter Courage des Kommandounternehmens Karriere Castorf´". Andere Frauen, die etwas zum Thema Liebe und Arbeit in Castorfs Leben hätten beisteuern können, kommen nicht zu Wort. Denkt man etwa an John Fuegis Brechtbiografie, so möchte man sagen, zum Glück. Für alle Beteiligten. Denn Detje liebt es, zu psychologisieren. Über weite Strecken sympathisiert der Autor mit dem Sohn des Eisenhändlers aus Prenzlauer Berg, blickt anerkennend auf den charismatischen Helden, der zu Anklamer Zeiten, um so mehr geliebt wurde, je mehr er sich zurückhielt, oder dessen intellektueller Brillanz schon zu Studienzeiten niemand widerstehen konnte. In der Rolle des Volksbühnenintendanten schlägt das wohlmeinend ironische Einverständnis jedoch um in kritische Distanz, die fast so oberlehrerhaft daherkommen, wie die pädagogischen Rügen, die sich Castorf als Schüler wegen "Taktlosigkeit" und "Überheblichkeit" einhandelte. Beim Größenwahn des Macho Castorf hört für Detje der Spaß auf: "Nun sei er Intendant, sagt er der Legende nach, nun könne er alle Frauen haben, die er wolle." Castorf redet viel und ungeschützt, auch in der Öffentlichkeit. Eine gewisse Skandalträchtigkeit hat ihm dabei nie geschadet, im Gegenteil, seine Art, sich angreifbar zu machen, für westliche Medienvertreter lange Zeit regelrecht schockierend, wurde zum Markenzeichen des "Störsenders" am Rosa Luxemburg Platz. Detje diagnostiziert hingegen: "Die Verbalattacken kompensieren Ängste aller Arten, die man als angehender Intendant empfindet, wenn man sich selbst dabei zusieht, wie man von der eigenen Eitelkeit in eine Machtposition gespült wird. Sie haben aber auch mit der Männerrolle im Osten zu tun. [...] Damit ist die grundsätzliche DDR-Dialektik von Machismo und Filzpantoffel bezeichnet; sie ist dem So-Sein des Ost-Mannes eingeschrieben." Detjes schlichte Grundthese ist, dass alles, was der Künstler Castorf macht, letztlich mit der Ästhetisierung und Politisierung seines eigenen Narzissmus zu erklären sei: Ein wahnsinniger Kleinbürger mit Mutterkomplex, der das Theater nutzt, um seine Neurosen auszuleben, und dem es dabei offensichtlich auf geniale Weise gelungen ist, den gesamtdeutschen, kollektiven Neurosen den Spiegel vor zuhalten. Große Kunst eben.Robin Detje: Castorf. Provokation aus Prinzip. Henschel Verlag, Berlin 2002, 272 S., 40 s/w-Abb., 19,90 EUR
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