FREITAG: Was würden Sie einem Patienten sagen, der Angst vor Sigmund Freud hat - wie und warum heilt die Psychoanalyse?
MARGARETE MITSCHERLICH-NIELSEN: (lacht) Das sind Fragen. Wenn ich die beantworten könnte, wäre ich ein Wunderdoktor. Einen solchen Patienten würde ich sehr gut verstehen. Denn in der Analyse erfährt er etwas über sich, das er vorher nicht erfahren hat. Vor dem Fremden hat man ja immer Angst, auch vor dem Fremden in seiner Seele. Da wird etwas aufgedeckt, ogottogott, ganz was Furchtbares kommt heraus, mit dem ich mich nicht einverstanden erklären kann. Ängste aus einer sehr abhängigen Phase unseres Lebens bestehen im Unbewussten fort. Wenn sie bewusst gemacht werden, erkennst du, dass diese Ängste heute nicht mehr zutreffen. Denn du hast gelernt, selbstständig dein Leben zu meistern.
In seinem Buch "Auf dem Weg in die vaterlose Gesellschaft" diagnostizierte Alexander Mitscherlich 1963 einen Verfall väterlicher Autorität.
Er hat dabei aber eines übersehen: In beiden Weltkriegen wurden unendlich viele junge Männer dahin gerafft. So gab es tatsächlich nach dem Ersten Weltkrieg keine Väter mehr, und nach dem Zweiten Weltkrieg schon gar nicht, geschweige denn Väter, die noch so etwas wie Autorität hatten, nachdem Deutschland aus einer Kulturnation eine Verbrechernation geworden war. Alexander Mitscherlich hat sehr darauf gepocht, dass der Beruf nicht mehr nachahmensfähig war. Früher hatte man einen Vater, der beispielsweise Tische und Stühle machen konnte oder Landwirtschaft betrieb, und man lernte direkt vom Vater und ahmte ihn nach. Heute leben die Menschen immer mehr in Städten, und die Kinder sehen nicht mehr, was ihre Väter machen. Aber die Welt geht nun mal vorwärts. Das hat Mitscherlich einerseits gesehen, aber er hatte auch diese romantische Ader - was für ein Jammer, dass die Väter heute in Büros gehen oder an Fließbändern stehen und nicht mehr vor den Augen ihrer Söhne arbeiten. Es waren zunächst nur die Söhne, die vaterlos waren. Aufgrund meiner Intervention ist er dann auch auf die Töchter gekommen.
Heute wächst ein Teil der Kinder vaterlos auf. Ihre Mütter sind allein erziehend, in der Grundschule werden sie überwiegend von Frauen unterrichtet. Wirkt sich das gesellschaftlich aus?
Eine vollständige Familie ist tatsächlich nicht mehr selbstverständlich. Ein Drittel der Ehen wird geschieden, ein Drittel heiratet überhaupt nicht, und viele Mütter erziehen ihre Kinder ohne Väter. Das wird inzwischen akzeptiert. Heute wird Familie zwar noch hochgehalten, aber Sie fallen in keiner Weise aus der Gesellschaft heraus, wenn Sie keine Familie oder nur eine Mutter-Kind-Familie haben. Sie mögen es schwerer haben, als wenn Sie zu zweit ein Kind erziehen, aber moralisch erledigt sind Sie deswegen nicht. Wir leben in einer mittlerweile recht veränderten Gesellschaft.
... in der womöglich eine neue Generation von Frauen die Männer überholt. Sind wir auf dem Weg nicht nur in die vaterlose Gesellschaft, sondern zu einem neuen Matriarchat?
Na, schön wär´s. Die Mädchen waren immer quicker, wir Mädchen haben schneller gelernt. In der Kindheit sind die Jungs immer ein bißchen tumber als die Mädchen, ein bißchen langsamer und naiver. Erst wenn sie in die Gesellschaft reinkommen, sind die Männer plötzlich mehr wert als die Mädchen oder waren es zumindest lange Zeit. Das hat sich geändert. Früher hat der Kampf gegen die Männergesellschaft die Mädchen und ihr Selbstwertgefühl stark beansprucht. Heute kommt ihre ursprüngliche Schnelligkeit viel mehr zur Geltung. Wer weiß - vielleicht überholen wir euch sehr schnell, ihr lieben Männer.
Das Buch über die vaterlose Gesellschaft fragt auch nach Funktionen und Formen des Gehorsams. Sind wir zu gehorsam?
Nein, aber wir sind immer noch recht infantil. Wir jammern und finden, dass der Staat alles tun soll. Wir sind die verspätete Nation plus die verspätete Demokratie - mit der Nation kam die Demokratie bei uns nicht. So sind wir immer noch auf Vater und Mutter und Autoritäten angewiesen. Der Papa wird´s schon richten, Papa immer noch mehr als Mama, und wir sind nicht mitverantwortlich. Papa und Mama müssen nicht besonders moralisch sein, das ist uns ziemlich wurscht. Aber sie sollen uns ein schönes, möglichst nicht allzu arbeitsreiches Leben bescheren. Da sind wir rückständig. Wir haben nicht kapiert, dass das Funktionieren unserer Demokratie allein auf den Schultern jedes Einzelnen beruht, Mann wie Frau. Andererseits haben wir uns wirklich verändert. Ich bin froh, dass ich jetzt in einem Deutschland lebe, das so lange Frieden hat und sich wirklich bemüht, eine Demokratie zu werden.
1969 erhielt Alexander Mitscherlich den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. In seiner Rede regte er an, "für das Martialische in sich selbst hellhöriger zu werden". Liegt darin eine Möglichkeit, Kriege zu vermeiden?
Da habe ich Zweifel. Die Menschen langweilen sich ja schnell. Ich frage mich, ob Kriege neben anderen Dingen nicht auch oft deswegen angefangen wurden, weil die Leute sich zu Hause langweilten. Da musste etwas Neues passieren. Alexander Mitscherlich hat es auch Spaß gemacht, gelegentlich Krach zu haben. Das ist ein allgemein menschlicher Charakterzug, der sicher in einigen Ländern stärker ausgeprägt ist als in anderen. Warum, darüber müßte ich nachdenken.
Sie haben 2005 gesagt, Ihr Lebenswerk habe sich mit Emanzipation im weitesten Sinn beschäftigt, mit der Befreiung von Denkeinschränkungen, Vorurteilen, Ideologien. Was hat die Psychoanalyse dazu beigetragen?
Eigentlich hat es ja eine Psychologie vor Freud nicht gegeben. Was da im Innern des Menschen geschieht - dass er liebt, hasst, Eifersucht fühlt, sexuelle Wünsche hat, Phantasien, die er gar nicht schätzt und unterdrückt - das hat Freud uns erschlossen und immer wieder neu auf seine Gesetzmäßigkeit zu durchleuchten versucht. Das fängt eigentlich erst mit Freud an, ist ein neues Leben.
1965 hat Alexander Mitscherlich die "Unwirtlichkeit unserer Städte" kritisiert. Wie sieht für Sie eine wirtliche Stadt aus?
Eine menschenangenehme Stadt muss eine gewisse Ordnung haben. Da muss jeder wissen, ich kann nicht einfach tun, was mir gefällt, sondern ich muss die Stadt so weit in Ordnung halten, dass der andere auch gerne darin lebt. Diese heilen Städte in der Schweiz, das wieder aufgebaute Freiburg und schöne alte Städte sind für mich, das gebe ich zu, ein Vergnügen. Wenn etwas so richtig hässlich ist, das kapiere ich schon. Aber ich fürchte, dass mein Geschmack, was Städtebau betrifft, nicht unbedingt der höchstentwickelte ist.
Als Abhilfe gegen die Unwirtlichkeit hat Mitscherlich empfohlen, zwiespältige Gefühle zuzulassen.
Da bin ich wieder ganz und gar zuhause. Das hat uns auch Freud nahegebracht. Keiner von uns ist ambivalenzfrei. Jeder muss lernen, seine Vorurteile zu durchschauen und seine Ambivalenzen zu ertragen, sich auch zu vergeben, dass man selbst den geliebtesten Menschen gelegentlich an die Wand schmeißen könnte.
1973 haben Sie mit Ihrem Mann Psychodynamik und Krisen der Lebensmitte untersucht. Was macht die Lebensmitte krisenhaft?
In der Lebensmitte erkennt man, dass das Leben eines Tages zu Ende geht. Dieses Ende des Lebens beginnt, immer lauter an Herz und Kopf zu pochen. Wenn man so alt ist wie ich, kommt man da manchmal gar nicht mehr raus. Lebensmitte heißt aber außerdem - was ja nicht in Mode ist und auch von Freud als krank angesehen wurde -, nach dem Sinn des Lebens zu fragen. Das Leben hat keinen Sinn, natürlich nicht. Wir sind höhere Tiere, und unser Leben hat keinen Sinn außer dem, den man ihm selber gibt.
Eine existenzialistische Position: Der Mensch kommt auf die Welt und muss sich seinen Sinn selber geben.
Das ist doch klar. Ich bin protestantisch erzogen worden. Ich habe zum lieben Gott gebetet, dass es meinen Eltern gut geht. So sind wir doch, wir Kinder, solange wir Kinder bleiben. Ich bin heute noch jemand, der absolut glaubt. Der Sinn des Lebens besteht darin, sich zu fragen: Was sind unsere Werte, welche halten wirklich stand, und aufgrund welcher standhaltenden Werte müsstest du dein Leben einrichten? Aber es ist nicht der liebe Gott, der dir den Sinn deines Lebens gibt, sondern den musst du dir erarbeiten. Mit dem Verstand weiß ich, dass es keinen lieben Gott gibt, aber ich spreche oft mit ihm, das habe ich seit meiner Kindheit getan. Das tut mir gut, und das erlaube ich mir.
Sie wissen, dass es keinen Gott gibt, aber Sie sprechen mit ihm?
Mir scheint das selbstverständlich. Wir werden so aufgezogen, wir haben jemanden, mit dem wir sprechen möchten und müssen. Ohne mitmenschliche Beziehungen ist das Leben ein Horror. Wenn ich im Moment keinen Menschen habe, der mich so gut versteht wie Gott, spreche ich eben mit Gott. Gott ist für mich jemand, mit dem man über alles sprechen kann. Jemand, der da ist und nicht existiert.
Sie werden in diesen Tagen neunzig Jahre alt. Wie schaffen Sie es, sich fit zu halten?
Körperlich ist das oft sehr elend. Aber es lohnt nicht, dagegen aufzubegehren. Ich bin froh, ich bin an vielen Dingen interessiert, lese viel, Geschichte, Literatur, Philosophie, Psychologie und so weiter, daran habe ich unendlich viel Spaß. So ist es, und demnächst werde ich sterben, und so ist das auch.
Sie praktizieren noch als Psychoanalytikerin?
Ja, sehr gerne. Ich lerne ja etwas von meinen Patienten. Sehr interessant, wie unterschiedlich die Menschen sind. Sehr interessant.
Das Gespräch führte Christof Goddemeier
Die Medizin wurde ihr im Elternhaus in die Wiege gelegt: Der Vater war Arzt und stammte aus Dänemark, die Mutter Lehrerin. Doch in Heidelberg und München, wo Margarete Nielsen studierte und 1950 promovierte, war es nicht nur die Medizin, sondern auch die Literatur, die die junge Frau faszinierte. Ihre Begegnung mit dem Arzt und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich (1908-1982), mit dem sie seit 1949 einen Sohn hat, den sie aber erst 1955 heiratete, stellte dann endgültig die Weichen für ihren künftigen Lebensweg als Psychoanalytikerin. Zunächst arbeitete sie mit ihrem Mann in Heidelberg, ab 1967 lehrte sie am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt. Ein wichtiger Schwerpunkt ihrer theoretischen Arbeit war die nationalsozialistische Vergangenheit und deren Nichtbewältigung (Die Unfähigkeit zu trauern, zusammen mit Alexander Mitscherlich, 1967). In den siebziger Jahren setzte sie sich mit der Rolle von Vorbildern auseinander, und in den Achtzigern fand ihre Studie Die friedfertige Frau (1985), gefolgt von Die Mühsal der Emanzipation (1990), nicht nur in frauenbewegten Zusammenhängen große Aufmerksamkeit.
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