Das System der Rüstungsbegrenzung steht vor dem Kollaps. So das Fazit des Friedensgutachtens 2008, das in dieser Woche vorgestellt wurde. Verantwortlich dafür sei besonders die strategische Raketenabwehr, wie sie von den USA vorangetrieben wird, schreibt mit Reinhard Mutz einer der Herausgeber des Gutachtens, dessen dafür mit Götz Neuneck verfassten Text wir hier in gekürzter Fassung wiedergeben.
"Wer braucht die neue Runde eines in diesem Fall unvermeidlichen Wettrüstens?", hielt Russlands damaliger Präsident Putin seinen irritierten Zuhörern entgegen und fügte vielsagend hinzu: "Ich bezweifle zutiefst, dass es die Europäer selbst sind."
Traditionell ist die jährliche Münchner Sicherheitskonferenz der Ort, an dem sich politische Meinungsführer über ihre strategischen Weltbilder austauschen und seit der Irak-Invasion auch über abweichende Sichtweisen. Zielgenau eine der Schwachstellen transatlantischen Einvernehmens traf Gastredner Putin im Februar 2007 mit seiner harschen Attacke auf das amerikanische Vorhaben, Komponenten einer Raketenabwehr in Polen und Tschechien zu stationieren. Über diplomatische Fühlungnahmen zwischen Washington, Warschau und Prag hatten die Medien bereits seit 2005 berichtet, ohne dass lautstarke Proteste aus Moskau zu hören waren - Putins Münchner Paukenschlag änderte das von einem Tag auf den anderen.
In den Folgemonaten tat die russische Führung einiges, um die Vorwarnzeit gegen Überraschungsangriffe zu verkürzen und militärisch reaktionsfähiger zu sein. Die Bomberflotte nahm ihre bewaffneten Patrouillenflüge wieder auf, die seit den frühen neunziger Jahren eingestellt waren. Auch fühlte sich Moskau nicht mehr an den Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE/s. unten) gebunden. Das hieß zunächst einmal nur: Es gibt keinen Informationsaustausch und keine gegenseitigen Vor-Ort-Inspektionen mehr. Doch könnten bald wieder Truppenkontingente disloziert sein, die bereits deaktiviert waren. Laut nachgedacht wurde auch darüber, weitere Rüstungskontrollabkommen zu suspendieren oder zu kündigen, darunter den bilateralen INF-Vertrag, der den beiden großen Atommächten die Stationierung von Raketen mittlerer Reichweite verbietet.
Bis heute bleibt Moskau dabei, kommen die Amerikaner mit ihrem Raketenabwehrprogramm nach Europa, ändert das die strategische Balance auf unsere Kosten. Begründete Sorge oder grundloser Alarmismus?
Wer oder was bedroht eigentlich die USA?
Im Wahlkampf um seine erste Präsidentschaft hatte George Bush im Jahr 2000 verkündet, ein umfassendes Abwehrsystem (Ballistic Missile Defense/BMD) errichten zu wollen. Die später verfolgte Politik seiner Administration griff auf Planungen zurück, zu denen sich unter den Bezeichnungen NMD (National Missile Defense) und TMD (Theater Missile Defense) schon der von einer republikanischen Kongressmehrheit bedrängte Vorgänger Bill Clinton bereit gefunden hatte. George Bushs Präsidialdirektive 23 vom Dezember 2002 bestimmte schließlich das Jahr 2004 zum Zeitpunkt des Stationierungsbeginns. Ein Auftakt von eher symbolischer Bedeutung und nicht mehr als ein Ausgangspunkt.
Den vorläufigen Charakter des Programms unterstrich ein Anfang 2002 von Verteidigungsminister Rumsfeld unterbreitetes Memorandum. Darin wurde die Nationale Raketenabwehr-Behörde (Missile Defense Agency/MDA) angewiesen, unverzüglich alle verfügbaren Technologien zu nutzen, selbst wenn deren Fähigkeiten noch hinter den Erfordernissen zurückblieben, die letztendlich erreicht werden müssten, um die USA effizient zu schützen. Um diesen ehrgeizigen Auftrag zu erfüllen, wurde eigens ein Spiral Development genanntes Aufbau- und Beschaffungsprinzip kreiert. Es besagt im Kern: weniger leistungsfähige Einsatzmittel werden sukzessiv durch wirksamere ersetzt, sobald sie zugänglich sind.
Wer oder was bedroht eigentlich die Sicherheit der USA mit ballistischen Raketen? Im Oktober 2007 meinte Präsident Bush, im Jahr 1972 hätten neun Staaten über solche Trägersysteme verfügten - heute seien es 27. Ein Blick auf die Dislozierungskarte des Pentagon zeigt freilich, dass die Mehrzahl davon zu den Alliierten der USA gehört. Die als "Schurkenstaaten" stigmatisierten Länder bilden nur eine kleine Minderheit. Als Bush sein Abwehrprogramm verkündete, war Nordkorea noch der meistgenannte Adressat, inzwischen ist es Iran. Beide Länder nutzen importierte Raketentechnologie. Die nordkoreanische No Dong und die iranische Shahab-3 - letztere baugleich mit der pakistanischen Ghauri - überbrücken Entfernungen von etwa 1.500 Kilometern. Zu einer Bedrohung für die USA könnten sie nur unter zwei Voraussetzungen werden: Sie müssten erstens auf interkontinentale Reichweiten kommen, was Henry Obering, Direktor der Missile Defense Agency (MDA), im Fall des Iran bis 2015 für wahrscheinlich hält. Zweitens würde ein funktionstüchtiger Atomsprengkopf benötigt, um auf einem ballistischen Flugkörper ins Ziel getragen zu werden. Derzeit hat aber Nordkorea sein Atomprogramm gestoppt, während das iranische bereits im Herbst 2003 eingestellt wurde, wie der gemeinsame Bericht aller US-Geheimdienste National Intelligence Estimate vom Dezember 2007 ans Licht brachte.
Ungeachtet dessen lässt sich die US-Regierung ihre Raketenabwehr im Haushaltsjahr 2007/2008 elf Milliarden Dollar kosten. Als Herzstück des Projekts gilt ein landgestütztes Verteidigungssystem (Ground-Based Midcourse Defense/GMD), bestehend aus einer schnellfliegenden Abfangrakete und einem Interzeptor, um feindliche Sprengköpfe in der mittleren Flugphase durch Aufprallenergie zu zerstören. Bisher sind davon fünf Einheiten in Vandenburg (Kalifornien) und zehn in Fort Greely (Alaska) installiert - 2013 sollen es 44 sein.
Aber nicht nur wegen der geringen Zahl in Stellung gebrachter oder vorgesehener Raketen führt der gebräuchliche Begriff des Raketenschirms in die Irre - überhaupt ist das System von operativer Einsatzreife weit entfernt. Nur sieben der bisher 13 GMD-Tests verliefen erfolgreich, bei den übrigen verfehlte der Interzeptor das angezielte Projektil. Der Paul Wolfowitz nachgesagte Vergleich mit der Gewehrkugel, die eine Gewehrkugel im Flug trifft, intoniert einstweilen nicht mehr als Zukunftsmusik.
Warum kann der Kreml nicht endlich Ruhe geben?
Dass der Ausfallschritt der strategischen Raketenverteidigung nach Europa Russlands Sicherheit bedroht, weist die US-Regierung energisch zurück. Es gebe nur eine bescheidene Dimensionierung des geplanten Standorts, da sich die Verhandlungen mit der polnischen Regierung auf ein Silofeld für bis zu zehn Abfangraketen beziehen. Das Quantum soll die politische Stoßrichtung des Vorhabens unterstreichen. Da es zum Schutz vor einer Großoffensive mit Massenvernichtungswaffen, wie sie nur von einer der atomaren Hauptmächte ausgehen könnte, nicht ausreicht, scheint es dem erklärten Zweck zu entsprechen, eine begrenzte Anzahl angreifender Raketen aus Ländern mit gering entwickelter Trägerkapazität - eben den "Schurkenstaaten" - abwehren zu können. Dean A. Wilkening - er leitet das Zentrum für Internationale Sicherheit an der Stanford-Universität - hält die kritische Grenze, die Russlands Vergeltungsfähigkeit mit einem Arsenal von 500 landgestützten Interkontinentalraketen substanziell schmälert, erst ab einer Größenordnung von 100 bis 150 Abfangraketen für erreicht. Aber lassen sich damit Moskauer Bedenken ausräumen?
Seit dem Rumsfeld-Bericht von 1998, der in den USA die Debatte über eine Raketenabwehr wiederbelebte, haben sich die Prognosen über Bedrohungen durch ballistische Waffen, die von suspekten Regimes ausgehen, als weit überzogen erwiesen. Da es der US-Politik schon heute geboten erscheint, mangelhaft funktionierende eigene Raketen gegen noch nicht existente fremde Raketen in Stellung zu bringen, lässt sich schwer absehen, zu welchen Folgerungen sie morgen gelangt. Rüstungsprogramme, in die Milliarden fließen, neigen zum Aufwuchs. Wo erst einmal zehn Raketen stehen, findet sich auch Platz für 100. Und die strategische Zuordnung ist keinem technischen Gerät eingeschrieben, sie unterliegt politischer Entscheidung.
Hier setzt ein weiteres Argument an, das die Moskauer Vorbehalte gegen Stationierungen in Polen und Tschechien entkräften soll: Von den vorgesehenen Stellungen aus sei die Bekämpfung russischer Raketen physikalisch unmöglich, heißt es. Dies trifft insoweit zu, als MDA-Chef Henry Obering in seinem Modell den Interzeptor sehr spät starten lässt. Kritiker des Projekts wie Theodore A. Postol vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) heben jedoch hervor, ein Abschuss russischer Raketen sei sehr wohl möglich, da die Leistungsmerkmale der zu installierenden Komponenten verbessert werden können, ja müssen. Damit ändert sich auch der Wirkungsradius des Systems, so dass mehrere hundert Raketen simultan erkundet und unter Beschuss genommen werden könnten. Hinzu kommt die Option der Amerikaner, Interzeptoren in weiteren Ländern an der Peripherie Russlands zu platzieren. Die begrenzten Fähigkeiten der heutigen Abwehr-Komponenten legen dies geradezu nahe.
Bereits im ersten Amtsjahr von George Bush hatte das Pentagon vier übergreifende Ziele der neuen Raketenabwehrpolitik formuliert: Raketenverteidigung soll Verbündete überzeugen, dass die USA durch Raketen nicht erpressbar sind, potenzielle Gegner von Investitionen in die Raketenrüstung abbringen, wegen eines ausbleibenden Angriffserfolgs vor Raketeneinsätzen abschrecken, und sie sollÊRaketenangreifer besiegen, falls die Abschreckung versagt.
Welcher potenzielle Gegner, der möglicherweise Raketen einsetzt, ist hier gemeint? Der Bezug zu "Schurkenstaaten" fehlt. Stattdessen fällt die Botschaft allgemein genug aus, um sich an jeden zu wenden, der Raketenwaffen starten kann. Die Brisanz der Zielbeschreibung liegt in der Anspielung auf die Siegoption. Sowohl zwischen den USA und der Sowjetunion als auch später zwischen den USA und Russland beruhte bekanntlich die strategische Balance auf der wechselseitigen Befähigung zum nuklearen Zweitschlag - ausdrücklich nicht auf der wechselseitigen Befähigung zur Verteidigung gegen einen Atomangriff (s. unten Glossar ABM-Vertrag). Nun aber transzendiert die Raketenabwehr-Doktrin der Regierung Bush das klassische Abschreckungsprinzip derart, dass es dem Kreml schwer fallen muss, sich nicht angesprochen zu fühlen.
Warum nicht Menschenleben lieber retten als rächen?
In der öffentlichen Wahrnehmung genießen Abfangraketen einen Sympathiebonus - sie sind defensiv, dazu bestimmt, einem Angriff zu widerstehen, nicht ihn zu führen. 1983 rückte Präsident Reagan diese Eigenschaft in den Vordergrund, als er die politische Welt mit seiner Strategischen Verteidigungsinitiative (Strategic Defense Initiative/SDI) elektrisierte: "Wie wäre es, wenn freie Menschen sicher leben könnten in dem Wissen, dass ihre Sicherheit nicht auf der amerikanischen Drohung einer sofortigen Vergeltung beruht, um von einem sowjetischen Angriff abzuschrecken; dass wir strategische Raketen abfangen können, ehe sie unseren Boden erreichen."
Die Idee bestach in ihrer suggestiven Schlichtheit. Selbst prinzipielle Kritiker der Abschreckungspolitik konnten ihr etwas abgewinnen: Erstmals im Kernwaffenzeitalter würde die Androhung des Massentötens als Mittel der Friedenssicherung technisch ersetzbar, die Zivilbevölkerung entkäme ihrer Geiselrolle. Die Befürworter beschworen die Chance des Ausstiegs aus dem inhumanen Poker nuklearen Wettrüstens - die Gegner witterten Washingtons Griff nach der atomaren Weltherrschaft.
Bis dahin garantierte das Gleichgewicht sich gegenseitig in Schach haltender Vernichtungspotenziale das wechselseitige Überleben am zuverlässigsten. In gängiger Pointierung hieß das: Wer zuerst schießt, stirbt als zweiter. Einseitige Schritte, die das Gleichgewicht empfindlich stören könnten, sollten tunlichst unterbleiben. Darüber herrschte stillschweigender Konsens, der im Fall der Raketenabwehr sogar in ein förmliches Abkommen gegossen wurde: Der im Mai 1972 zwischen Washington und Moskau geschlossene ABM-Vertrag (Anti-Ballistic Missiles) verbot ganz bewusst eine landesweite Raketenabwehr. Über Jahrzehnte galt er als Garant strategischer Stabilität, bis die Regierung Bush das Abkommen für Mitte 2002 kündigte.
Rechtlich ist seither der Weg frei für ein Verteidigungssystem jeden gewünschten Zuschnitts. Sogar die Rückkehr zu den hochfliegenden Plänen Reagans, die Defensive über die Offensive triumphieren zu lassen und Menschenleben lieber zu retten als zu rächen, steht offen. Politisch jedoch mobilisiert jede Entscheidung in diese Richtung den Argwohn der Betroffenen, denn eine funktionstüchtige Raketenabwehr nimmt der Macht, die sie erlangt, die vorhandene Angriffsrüstung nicht aus der Hand. Verändert hätte sich nur deren politische Mission. Nunmehr risikolos einsetzbar, würde eben dieser Umstand in vielen Szenarien den wirklichen Einsatz erübrigen, weil die Nutzung als diplomatisches Druckmittel vorteilhafter wäre. Der Staat, der das Abschreckungsgleichgewicht umstößt und das Drohmonopol an sich reißt, kann fortan seinen Willen diktieren - Gegnern wie Freunden. Aus Frieden auf Gegenseitigkeit würde Frieden zu seinen Bedingungen - den Bedingungen des Stärkeren.
Dieser Text basiert auf dem im Friedensgutachten 2008 enthaltenen Beitrag Manie der Unverwundbarkeit - welche Sicherheit bietet die Raketenabwehr?
Dr. Reinhard Mutz ist Politikwissenschaftler und Soziologie. Von 1984 bis 2006 war er Stellvertretender beziehungsweise kommissarischer Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Uni Hamburg (IFSH).
Prof. Götz Neuneck ist Physiker und Leiter der Interdisziplinären Forschungsgruppe Abrüstung, Rüstungskontrolle und Risikotechnologien am IFSH.
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