Freitag: Herr Hippler, in Deutschland wird von Spitzenpolitikern immer öfter gefordert, Deutschland müsse sich militärisch stärker im Ausland engagieren.
Warum gerade jetzt?
Hippler: Diese Debatte wird eigentlich schon seit Ende der achtziger Jahre geführt. Damals ging es darum, ob die Bundesmarine Schiffe ins Mittelmeer entsenden sollte, um US-Schiffe zu ersetzen, die im Rahmen des ersten Golfkriegs von dort abgezogen worden waren. Seitdem kehrt dieses Thema in Wellen immer wieder. Früher war das ein Tabubruch. Alle Parteien waren in den achtziger Jahren noch der Ansicht, Militäreinsätze im Ausland – das geht gar nicht. Auch die CDU hat das so gesehen.
Heute ist die Lage eine völlig andere. Deutsche Soldaten sind in Afghanistan, in Mali, am Mittelmeer und in der Türkei stationiert. Mehr geht doch kaum. Ist das also nur eine Scheindebatte?
Es gibt da verschiedene Ebenen. Zum einen geht es ganz pragmatisch darum, die politischen Kosten zu verringern, die Auslandseinsätze verursachen. Wie Ihre Umfrage zeigt, lehnt die ganz überwiegende Mehrheit Militäreinsätze im Ausland ab. Die Deutschen agieren bei diesem Thema deshalb besonders vorsichtig und geraten beispielsweise in der NATO in eine Außenseiterrolle, weil dort ständig Vorbehalte geäußert werden. Offenbar haben Außenminister Steinmeier und Verteidigungsministerin von der Leyen das Bedürfnis – wie Frankreich oder Großbritannien –, auf eine relativ normale und selbstverständliche Art bei internationalen Einsätzen mitmachen zu können. Da muss die Öffentlichkeit natürlich mitspielen. Außerdem glaube ich, dass gewisse Restriktionen gelockert werden sollen.
Geht es wirklich nur um das politische Tagesgeschäft?
Nein, da steckt mehr dahinter. Im Augenblick gibt es in der Tat eine Debatte mit dem Ziel, die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik neu zu definieren. Einige Experten denken zum Beispiel darüber nach, ob man Militäreinsätze nicht auch außerhalb eines UN-Mandats durchführen kann. Im Klartext würde das heißen: Völkerrechtswidrige Einsätze wären künftig nicht mehr ausgeschlossen. Fairerweise muss man aber hinzufügen, dass das sehr kontrovers diskutiert wird.
Was hätte die Bundesrepublik davon, sich international stärker zu engagieren? Mehr Ansehen?
Ansehen ist das eine. Aber es geht auch darum, dass die deutsche Politik international nicht mehr in der zweiten Liga spielen will. Die Deutschen kriegen von ihren Partnern ja ständig zu hören, dass sie einerseits zwar sehr kompetent, aber andererseits immer mit angezogener Handbremse unterwegs seien. Es geht also auch darum, Reibungen mit den westlichen Verbündeten zu minimieren.
Das heißt, die Deutschen wollen in die erste Liga der Großmächte aufsteigen?
Naja, erste Liga sind die USA und dann kommt erst mal ganz lange nichts. Dann folgen Gr0ßbritannien, Frankreich, China, vielleicht noch Russland.
Wo würden Sie denn Deutschland einsortieren, wenn Sie es mit den USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und China vergleichen?
Wenn man sich nur die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr ansieht, dann würde ich schon sagen, dass die auf dem französisch-britischen Niveau angekommen ist, manchmal sogar noch darüber liegt. Aber es gibt auch wichtige Unterschiede.
Wo denn?
Das Gefühl, dass man vieles auf der Welt am besten militärisch lösen könnte, ist bei uns wesentlich geringer ausgeprägt als in London oder Paris, ganz zu schweigen von den USA. Die Deutschen sitzen da ein wenig in einer Zwickmühle. Einerseits wollen sie bei vielen Dingen nicht mitmachen, andererseits fürchten sie sich auch davor, dass die Verbündeten sie nicht mehr so richtig ernst nehmen. Und in dieser Haltung lag bisher ein wichtiger Unterschied im Vergleich zu den Großmächten der vergangenen 70 Jahre. Und es gibt noch einen Unterschied.
Welchen?
In Deutschland gibt es immer noch einen wichtigen Restbestand der „Kultur der Zurückhaltung“. Denken Sie daran, wie die Bundesregierung sich aus einem Engagement in Libyen rausgehalten hat. Ich kann nicht erkennen, dass die Regierung besonders scharf darauf wäre, in irgendwelche Kriege im Dschungel oder in der Wüste verwickelt zu werden. Und ich hoffe, dass das auch so bleiben wird.
Aber das Ziel der Debatte, die unter anderem Gauck an-gestoßen hat, ist doch, diese Haltung zu ändern?
Das fürchte ich auch. Gauck hat die Diskussion ja nicht willkürlich vom Zaun gebrochen. Die Reaktionen auf seine Äußerungen zeigen doch, dass es in der Gesellschaft nach wie vor große Widerstände gibt – übrigens nicht nur bei der Linken, sondern bis in die CDU hinein – gegen eine Interventionspolitik nach Art der Briten oder Franzosen. Das Thema mag bei den politischen Eliten zwar schon durch sein, ist es aber nicht in der deutschen Gesellschaft. Wenn es um Mindestlohn, Rente oder Genderthemen geht, da diskutiert sofort das ganze Land mit. Aber außen- oder sicherheitspolitische Debatten werden in Deutschland üblicherweise nur von einer kleinen Elite geführt. Das müsste sich dringend ändern. Insofern haben Gaucks Bemerkungen auch etwas Positives. Bei Fragen, die mit Krieg und Frieden zu tun haben, würde ich mir schon eine breite Debatte wünschen.
Erwischt die Debatte über mehr militärisches Engagement Deutschlands im Ausland die Friedensforscher auf dem falschen Fuß? Sind sie verstummt oder werden sie öffentlich nicht wahrgenommen?
Die Friedens- und Konfliktforschung hat heute sicher eine andere Bedeutung als in den dynamischen achtziger Jahren, als im Rahmen des Ost-West-Konflikts sehr viel über Friedenspolitik diskutiert wurde. Friedensbewegung und Friedensforschung wurden in der Öffentlichkeit oft in einem Atemzug genannt. Das ist vorbei. In der Friedensforschung ist eine Akademisierung eingetreten. Die war zwar notwendig. Aber wenn man nicht aufpasst, ist man ganz schnell entpolitisiert.
Hat die mangelnde Wahrnehmung der Konfliktforschung auch damit zu tun, dass es in den letzten Jahren so viele Brüche des Völkerrechts gegeben hat? Gibt es einfach keine Maßstäbe mehr, an die man sich halten kann?
Es gibt schon noch Maßstäbe, aber manchmal sind sie in der Tat schwammig. Eigentlich ist die Sache ja glasklar. Gewalt darf nur zur Selbstverteidigung eingesetzt werden oder auf Beschluss des UN-Sicherheitsrates. Alles andere ist völkerrechtswidrig. Aber es gibt eben auch Einfallstore, zum Beispiel wenn man die UN-Resolution „Responsibility to Protect“ nicht als politische Deklaration auffasst, sondern eben auch als Völkerrecht. Einige Staaten und Forscher tun das und fordern Interventionen auf dieser Grundlage. So wird das Völkerrecht relativiert. Also, die Antwort lautet: Die Maßstäbe sind ins Rutschen geraten.
Warum fristet die zivile Konfliktregulierung ein Schattendasein? Ändert sich das gerade durch den Ukraine-Konflikt, der zeigt, wie schnell Konflikte militärisch eskalieren, wenn die Politik versagt?
Zivile Konfliktlösung wollen wir im Prinzip ja alle. Nur ist leider oft unklar, was damit gemeint ist. Kompromisse und Verhandlungslösungen sind in vielen Fällen denkbar, manchmal aber auch sehr schwierig. Zum Beispiel, wenn man sehr viele Akteure hat. Wer ist relevant? Wer darf sprechen? Wer nicht? Es gibt Ansätze, die eher auf die gesellschaftliche Ebene zielen. Mediation zum Beispiel. Aber in Afghanistan wäre das sicher kein geeignetes Mittel.
Was wäre die Lösung?
Zivile Mittel können eben auch bedeuten, dass man Konflikte bearbeitet, indem man funktionierende staatliche Strukturen schafft. Nehmen Sie den Irak und ISIS. In diesem Konflikt helfen keine Bomben, aber eben auch keine Verhandlungen, weil die ISIS-Leute ja gar nicht reden wollen. Aber wenn der irakische Staat funktionieren und von den Bürgern akzeptiert würde, wäre ISIS relativ schnell das Wasser abgegraben. Also: Man muss Staaten so organisieren, dass sich alle gesellschaftlichen Gruppen wiederfinden können. Diesen Fehler haben wir übrigens auch in Afghanistan gemacht, als wir die Regierung Karzai trotz Korruption, Inkompetenz und Wahlfälschung auch dann noch unterstützten, als sie großen Teilen der Bevölkerung als nicht mehr legitim erschien.
Fehlt der Friedens- und Konfliktforschung heute der Resonanzboden Friedensbewegung, die nur noch ein Schattendasein fristet?
Das Problem ist nicht, dass die Friedensbewegung derzeit relativ schwach ist. Es geht eher darum, wie man Friedenspolitik gesellschaftlich verankern kann. Da wäre natürlich eine starke Friedensbewegung wichtig, aber auch eine selbstbewusste Friedensforschung.
Jochen Hippler ist Friedensforscher am Duisburger Institut für Entwicklung und Frieden. Er beschäftigt sich vor allem mit Militärinterventionen und Regionalkonflikten. Seine Spezialgebiete sind der Nahe und der Mittlere Osten
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