Mein Mann hat mir immer gesagt, wenn ich ihn nach seinen Kriegserlebnissen in Rußland gefragt habe: "Das läßt sich nicht erzählen", schreibt im März 1952 Ilse Heinemann aus Frankfurt an die Leserbriefredaktion der Zeitschrift Revue. Erst durch einen Fortsetzungsroman mit dem hormonstrotzenden Titel Einen besseren findst du nicht, der in der Revue ganze 35 Wochen als Landserepisode gedruckt wurde, fand man in der Frankfurter Familie die Sprache wieder. Genauso sei es gewesen, so der Kommentar des Mannes nach der Lektüre. Da auch Frau Heinemann noch Sprachprobleme wettzumachen hat, bittet sie die Redaktion: "Erzählen sie meinem Mann und seinen Kameraden, wie der Krieg in der Heimat war".
Worüber man nicht reden kann, davon lässt man schreiben. In
sst man schreiben. In den 50ern ein weitverbreitetes Kuriosum. Da die Sprachregelung und Diskursordnung zum 2. Weltkrieg und zur Vernichtungspolitik noch nicht statisch und Bewertungsmechanismen lange nicht ausgehandelt waren, suchte man in Illustrierten und Landserromanen nach Verständigungsmöglichkeiten. Und wo auch die Edelfedern von Revue, Quick oder Stern passen mussten, da blieben zuletzt noch die Bilder, die Martin Walser Jahre später einmal der "Dauerpräsentation unserer Schande" verdächtigen sollte. Der Göttinger Historiker Habbo Knoch hat diese in seinem Buch Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur untersucht. Damit legt er nicht nur ein umfangreiches Werk zur Verwendungsgeschichte etwa jener Fotografien vor, die zuletzt durch die Ausstellung "Vernichtungskrieg" des Hamburger Instituts für Sozialforschung in die Schusslinie geraten waren. Vielmehr eröffnet er auf gut 1.000 Seiten eine Geschichte der bundesdeutschen Bewältigungskultur. Selten hat dabei ein Akademiker so sehr in den Niederungen des scheinbar Trivialen geforscht. Knoch bezieht sich nicht nur auf einschlägige Voruntersuchungen wie die des Bochumer Geschichtswissenschaftlers Norbert Frei, sondern liest sich quer durch die Zeitungs- und Illustriertenarchive der frühen Bundesrepublik. Selbst Groschenheftchen und Kameradschaftsblätter schrecken ihn nicht ab, um nach dem Bildhaushalt der Vernichtungspolitik zu fahnden. Dieser wurde für Knoch nicht erst am 8. Mai 1945 aufgestockt, sondern bereits im Sommer `33. In der Münchner Illustrierten Presse war damals eine Bildreportage mit dem Titel "Die Wahrheit über Dachau" erschienen, mit der erstmals ein Konzentrationslager visualisiert wurde. Gezeigt werden Gefangene bei der Arbeit, bei "Essenspausen" und "Erholungsstunden". Nackte und gesunde Oberkörper sollen dabei die inhumane Wirklichkeit überschreiben. Nach der Kapitulation führten diese Bilder zu einem "Clash der Imagination". Fotografien, die besonders die Amerikaner aus den befreiten Lagern Buchenwald und Bergen-Belsen machten, passten so gar nicht in das Bildnarrativ, das die nationalsozialistische Presse von diesen Orten aufgebaut hatte. Statt quasi-militärischer Reihungen und emsiger Arbeit wurden erstmals in breiter Form die zerstörten und geschändeten Leiber gezeigt. Unter der Vorgabe, so dokumentarisch wie möglich das Grauen festzuhalten, entwickelten die alliierten Fotografen - unter ihnen so bedeutende Bildreporter wie Margaret Bourke-White - einen Teil der späteren Erinnerungsikonographie. Für Knoch scheinen diese Fotografien so etwas wie Urbilder der Gedächtniskultur zu sein. Sie sind der erste Bezugspunkt, auf den die folgende Visualisierung des Nationalsozialismus immer wieder rekurrierte. Indes: Ihre Absicht verfehlten diese Fotografien. Wollten die Alliierten einen edukativen Schock herbeiführen, indem sie Bilder von Leichenbergen und "lebenden Toten" in kleinen Einzeldarstellungen oder auf Plakaten mit der Überschrift "Diese Schandtaten: Eure Schuld!" publizierten, so fürchtete man unter der deutschen Bevölkerung schnell den Kollektivschuldvorwurf. Zwar brachten auch die ersten Lizenzzeitungen noch Bilder dieser grauenerregenden Zeichen der Tat, spätestens aber mit der Lockerung der Pressestatuten verschwanden sie ins kollektive Unterbewusstsein. Stattdessen tauchten in den Medien neue Bilder auf: Fotografien von zerstörten Städten, Flüchtlingstrecks und sich zurückziehenden Soldaten. Die Tätergesellschaft dechiffrierte sich zur Opfergemeinschaft. Bildcodes der alliierten Aufklärungspublikationen wurden dabei aufgegriffen und ins Bild der eigenen Sache eingelesen. Von der Sprache bis zur visuellen Darstellung wurden die Erinnerungsbestände umcodiert. Plötzlich sah man sich selbst als Geschädigte eines in andere Sphären verschwundenen Regimes. Getreu dem Motto: Die Nazis, das sind die anderen, waren die Zeitungen in den frühen 50ern voll von Porträts Angehöriger der Führungsebene der NSDAP. Diese hatten nach den gängigen Darstellungsmustern nicht nur die Körper von Juden geschändet, sondern das eigene Volk gewaltsam in scheinbar vergleichbare Posen gezwängt. Vermehrt auftauchende Bilder vom Leiden des einfachen Landsers und dem Sterben an der "Heimatfront" sollten dies untermauern. Dem wirklichen Umfang des Verbrechens näherte man sich in Deutschland nur langsam. Oft waren es Umwege, die zurück zu den Bildern der Tat führten. So half etwa die Ritualisierung des Gedenkens an die Progrome von 1938, die man ab dem Jahr ´53 mit Gedenkfeiern an die sogenannte "Reichskristallnacht" begann, die Ausgrenzung der Juden zurück in das kollektive Bewusstsein zu holen. Der Massenmord aber wurde durch dieses Erinnerungsritual noch immer nicht thematisiert. Zudem trug das Wort "Kristallnacht" als Bezeichnung für Taten, die zumeist am hellichten Tage stattfanden, schon diverse Umdeutungsmuster im Namen. "Die Metapher der Nacht", so Knoch, "entsprach der Bedeutung des eigenen Unbeteiligtseins [...] und deckte sich mit der Kriminalisierung der Täter, die im Dunkeln unerkannt ihr Unwesen trieben". Ähnliche Interpretationsausflüchte lieferte ab 1955 auch das Tagebuch der Anne Frank. Das Bild des Mädchens ist für Knoch "vielfältig anschlußfähig". Ihr Lächeln wird zu einem Wunschbild der eigenen Unschuld, und ihr intakter Körper steht im direkten Gegensatz zu den KZ-Fotografien der geschändeten Leiber. In der Ikonographie Anne Franks aber auch Sophie Scholls konnten die millionenfach Gemordeten weiterleben. Sie wurden zu "marienähnlichen Erlösungssymbolen". Die eigentlichen Tatfotografien aber kamen durch Ereignisse von Außen zurück. Der Eichmannprozess oder die steigende Zahl antisemitischer Übergriffe zu Beginn der sechziger Jahre ließ sie wieder aus den Archiven hervorkommen. Besonders Gerhard Schoenberners Buch Der gelbe Stern war es, der diese Entwicklung vehement voranbrachte. Viele Fotografien, die bis dahin nur in osteuropäischen Archiven zugänglich waren, tauchen mit einem Mal in der westdeutschen Presse auf und lenkten den Blick der Mehrheitsgesellschaft unabwendbar auf das Morden in den Konzentrationslagern und die Verbrechen der Wehrmacht. Mit diesen Bildern aber ist nicht nur der Blick auf die Täter, sondern zudem der Blick der Täter selbst in der Gesellschaft angekommen. Letzteres ist ein Aspekt, den Knoch in seinem ansonsten bemerkenswerten Buch nur in Nebensätzen abhandelt. Die Entstehung - und somit der eigentliche Sender - der Verbrechensfotografien aber dürfte für eine umfangreiche Analyse aller Kommunikationskanäle ebenso von Bedeutung sein wie die spätere Rezeption. Denn gerade bei den Bildern aus den Archiven der sowjetischen Kommission zur Untersuchung der NS-Verbrechen handelt es sich zumeist um "typische" Amateurfotografien. Aufgenommen von Angehörigen der SS oder der Wehrmacht sollten sie erinnerungswerte Situationen im Leben des Fotografen festhalten. "Es ist möglich, daß der Amateurfotograf, wenn er selbst einen Genickschuß verübt, einen Kameraden bittet, an seiner Stelle auf den Auslöser zu drücken, damit er selbst und sein Höhepunkt mit ins Bild kommen", mutmaßte schon 1984 die Kunsthistorikerin Schmidt-Linsenhof. Das fotografische Gedächtnis an den Holocaust bedient sich der pervertierten Fetischbildchen hundertfacher Hobbyknipser. Unsere Erinnerungskultur wird gespeist aus dem zynischen Blick. Aus den Aufnahmen des Lagerkommandanten von Treblinka etwa, der die Motivation zu seinen "Schnappschüssen" in eine menschenverachtende Randnotitz münden ließ: Sein einstiges Privatalbum zierte er mit dem kargen Satz: "Die schönste Zeit meines Lebens".Habbo Knoch: Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur. Hamburger Edition. Hamburg 2001, 1100 S., 40,- EUR