Die Missachteten

Interview Pankaj Mishra erklärt, wie Terror und Wut mit den uneingelösten Versprechen der Aufklärung zusammenhängen
Ausgabe 27/2017
Mancherorts ballen die Zornigen schon längst nicht mehr nur die Faust in der Tasche
Mancherorts ballen die Zornigen schon längst nicht mehr nur die Faust in der Tasche

Foto: Mujahid Safodien/AFP/Getty Images

Der indische Schriftsteller Pankaj Mishra erhielt im Jahr 2014 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. In seinem neuen Buch geht er dem heutigen Zorn der Menschen nach und folgt ihm tief in die europäische Geschichte.

Paris, Brüssel, Berlin, Manchester – diese unvollständige Liste steht heute für Gewalt und Terror junger Muslime in Europa. Übersehen wir etwas, wenn wir den Terror auf den Islam zurückführen?

Wir ignorieren, dass sich global betrachtet eine lange Linie des Terrorismus seit dem 19. Jahrhundert durch alle Nationalitäten, Ethnien und Religionen zieht. Selbst buddhistische Mönche beteiligen sich gerade an ethnischen Säuberungen in Myanmar und Sri Lanka. Wer also den Islam gegen den Westen oder die Religion gegen die Vernunft ausspielt, verpasst es, die Frage zu stellen, warum sich Menschen überhaupt dem Terror anschließen.

Warum tun sie es?

Diese Menschen fühlen sich zurückgelassen und missachtet. Sie versuchen das Versprechen des Kapitalismus und der Moderne einzulösen, ohne dass sie es je erreichen können. Sie entwickeln einen regelrechten Groll – ein Ressentiment, das sich gegen die Gesellschaft richtet, in der sie leben. Dieses Ressentiment entsteht jedoch nicht aus der Religion heraus, sondern aus dem unbefriedigten Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Bestätigung. Den Rattenfängern des IS gelingt es, jene an sich zu binden, die sonst keinen Anschluss finden.

In Ihrem neuen Buch nehmen Sie den Blick dieser zurückgelassenen Menschen ein und versuchen, den historischen Ursprung dieses Gefühls zu ergründen.

Das Versprechen der Moderne lautet seit dem Ende des 18. Jahrhunderts: Jeder Mensch kann als freies Individuum seinen Nutzen in einer kapitalistischen Gesellschaft maximieren. Doch dieses Versprechen erfüllt sich für viele schlicht nicht. Der Verlauf der Geschichte wurde bisher kaum aus der Perspektive derjenigen betrachtet, die genau daran scheitern. Durch die globale Ausbreitung des westlichen Kapitalismus und der Technologie werden heute weltweit Menschen mit ganz unterschiedlichen kulturellen Hintergründen in eine gemeinsame Gegenwart geworfen, eine Gegenwart, in der eine ungleiche Verteilung von Wohlstand und Macht eine erniedrigende gesellschaftliche Rangordnung für den Einzelnen schafft.

Sie meinen also, nicht jedes Individuum kann zufrieden werden, wenn es sich am weltweiten Wettbewerb beteiligt?

Exakt. Das gilt für entwurzelte Inder, die von den ländlichen Gebieten in die Stadt gezogen sind, genauso wie für US-Amerikaner, die aufgrund eines für sie undurchsichtigen globalen Wirtschaftssystems ihre Arbeit verloren haben. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich zurückgeworfen fühlen und einen ziellosen Zorn in sich tragen. Genau der macht sie anfällig für Demagogen, autoritäre Führer, Nationalisten oder eben für die Versprechen von Terroristen. Sie sind es, die ihrem Zorn eine Richtung geben und Schuldige für ihr Scheitern bieten: der Westen, Einwanderer, Frauen oder Eliten.

Zur Person

Pankaj Mishra wurde 1969 in Jhansi, Nordindien, geboren. Er studierte Literatur und Ökonomie. Den Leizpiger Buchpreis erhielt er für Aus den Ruinen des Empires. Sein neues Buch Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart ist bei S. Fischer erschienen (426 S., 24 €)

Foto: Presse

Um den Zorn der Menschen zu verstehen, folgen Sie ihm bis ins späte 18. Jahrhundert. Warum?

Die Betonung der individuellen Freiheit nahm mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert ihren Anfang. Es war das radikalste Projekt in der Geschichte der Menschheit. Es betonte die Vernunft, den Eigennutz und die Freiheit des Einzelnen und bereitete der führenden Rolle von Kirche und Monarchie als moralischen Instanzen in der Gesellschaft ein Ende. Den Anstoß für diese Entwicklung gaben Vordenker der Aufklärung wie Voltaire. Die Folgen sind heute weltweit spürbar.

Was ist an Voltaire falsch?

Wir haben etwas Entscheidendes übersehen: Es war ein Projekt einer kleinen Elite. Wenn Intellektuelle wie er an Freiheit und die Ideale der Aufklärung dachten, hatten sie vor allem sich im Sinn. Das waren gut vernetzte Intellektuelle, die dem Bürgertum und der Aristokratie angehörten. Das Schicksal der Massen interessierte wenig – ein Problem, bis heute.

Rousseau prägte 1762 den Satz „Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten“. Wie verstehen Sie ihn vor dem Hintergrund der großen Wut?

Rousseau hat das Problem erkannt: Allein die Tatsache, dass der Mensch frei ist, erklärt noch nicht, wozu er frei ist. Dass Menschen, die keinen Anschluss finden, sich hinter einem Demagogen zusammenschließen, der ihnen Nationalstolz und Schuldige präsentiert, hat nicht nur das 20. Jahrhundert in Europa bewiesen.

Ist das nicht eine sehr eurozentristische Sicht auf die Welt?

Im Gegenteil, ich glaube, wir waren noch nicht eurozentristisch genug, um die Symptome der heutigen Krankheitsbilder richtig zu deuten. Der Blick auf Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert beispielsweise hilft uns, die nationalistische Gegenreaktion als Antwort auf die Globalisierung zu verstehen, in Indien oder in China.

Warum eignet sich ausgerechnet die Geschichte der Deutschen als Erklärung für die gegenwärtigen Zerwürfnisse?

Sie waren die Ersten, die im 18. Jahrhundert mit dem individuellen Freiheitsversprechen der Aufklärung, der Idee des Nationalstaats und des wirtschaftlichen Fortschritts ausgehend von Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten konfrontiert wurden. Anfangs begrüßten sie noch diese Ideen, doch als sie von Napoleon für eine aggressive, globale Form des Imperialismus instrumentalisiert wurden, fingen die Deutschen an, gegen die emanzipatorischen Ideen zu rebellieren.

Diese Abwehr gegen die imperialistische Anwendung westlicher Werte interpretieren Sie global?

Mit dem Fall der Berliner Mauer wurde das „Ende der Geschichte“ ausgerufen. Unhinterfragt konnte sich das westliche Modell ausbreiten. Dabei wurde die Brutalität, mit der sich die Moderne in Europa selbst ausgebreitet hatte, verleugnet. Jede ungeschönte Erzählung des westlichen Fortschritts zeigt jedoch unendliche Gewalt und Instabilität, nicht nur infolge zweier Weltkriege, sondern auch in der Geschichte der Kolonialisierung. Die damaligen Zerwürfnisse in Europa beobachten wir heute weltweit – wir erleben das globale Endspiel der Moderne.

Sie malen die Welt schwarz: Noch nie stand es um Gesundheit, Bildung und Einkommen der Menschen in der Welt so gut wie jetzt.

Das stimmt. Die Sterblichkeitsrate sinkt, während die Alphabetisierungsquote steigt. Aber wer misst die Auswirkungen kultureller Entwurzelung oder der Umweltverschmutzung auf die Leben der Menschen? Bedeutet ein längeres Leben auch zwangsläufig ein glücklicheres? Ich kenne selbst viele Menschen, die vom Land in die Stadt gezogen sind und nun zwar über der Armutsgrenze leben, doch sie hausen in Slums an den Stadträndern, weit weg von ihren Familien. Die Statistiken blenden das aus, was nicht gemessen werden kann: das subjektive Gefühl der Menschen.

Wie aber lösen wir dann den Zorn der Menschen auf?

Die politischen und ökonomischen Schocks der letzten Jahre haben die utopische Fantasie der Moderne und die Selbstzufriedenheit des Westens zerstört. Es gibt keine einfachen Antworten. Ich denke aber, es wäre schon ein Fortschritt, wenn wir unsere heutigen Probleme ohne ideologische Scheuklappen analysieren.

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