Die nahen Toten

Schriftstellertreffen Ein Beitrag für Elmau

Ach, übrigens: Die Alten sterben. Die alten Schriftsteller und Schriftstellerinnen sind eben dabei, von uns zu gehen. Schon übermorgen weilen die meisten nicht mehr unter uns. Auch die, deren Namen wir respektvoll oder despektierlich nennen, wenn man nach unseren großen Alten fragt, sind dann gestorben. Das wird so sein, nicht weil ich oder andere es diesen Mandarinen wünschten, sondern weil deren Lebensbahn sich neigt. Gut über Siebzig sind sie schon. Und wenn man auf die Achtzig zugeht in Deutschland ist man nach der Statistik in Bälde oder bereits ein Weilchen tot.
Wenn es dann übermorgen wirklich soweit ist, beginnt das erste Nachleben unserer frischgeborenen nahen Toten. Die FAZ ruft an, weil sie bei weiterexistierenden Kollegen rundfragt, was uns Die Blechtrommel zukünftig zu sagen habe. Im Freitag bekennen Ost- und West-Autorinnnen, warum sie eine oder warum sie keine Mutter verloren haben. Und in der ZEIT wird Dem-Mit-Den-Struppigen-Augenbrauen noch einmal jenes ominöse Reizwort aus seiner Friedenspreisrede von Anno 98 vorgehalten.
Einer von uns soll einen Nachruf schreiben, aber zu seiner Überraschung fällt ihm trotz der Fülle des Gewußten nichts Rechtes ein. Ein Freund von mir, in meinem Alter und Lehrer für Deutsch, besitzt das KLG. Im Kritischen Lexikon der Deutschen Gegenwartsliteratur herausgegeben von Hans Ludwig Arnold - der ist übrigens Jahrgang 1940 - suchten wir nach den jüngsten und nach den kommenden Toten des deutschen Literaturbetriebs. Es ist ein Reich der Schatten, durch das wir uns geblättert haben. Aus verschiedenen Bänden riefen wir uns die Namen von Autorinnen und von Autoren zu, die zwischen 1915 und 1935 geboren wurden. Kennst du den oder die? Weißt du, ob er oder sie noch lebt? Alle Genannten, schnell waren es mehrere Dutzend, haben in bekannten Verlagen veröffentlicht und Preise erhalten, alle haben mehrere Jahrzehnte Lebenszeit und manches Jahr Arbeitszeit mit uns geteilt, einige leben parallel zu uns noch - bis wir irgendwo von ihrem Ableben lesen.
Zum Beispiel im Feuilleton der FAZ. Im Internet-Archiv der Frankfurter Allgemeinen Zeitung habe ich mit den Suchwörtern "Schriftsteller/Schriftstellerin" und "tot/gestorben" in den Jahrgängen 2000, 2001 und 2002 nach nahen Toten gefahndet und erhielt folgende Namen: Peter und Thomas Brasch, Elisabeth Freundlich, Harald Gerlach, Friedrich Gorenstein, Stefan Heym, Anna Maria Jokl, Heinz Kamnitzer, Hildegard Knef, Elisabeth Mann-Borghese, Hans Mayer, Angelika Mechtel, Margarete Neumann, Luise Rinser und Klaus Schlesinger. Von diesen Fünfzehn sind mir Fünf durch eigene Lektüre bekannt. Eine wirkliche Leseerinnerung lebt aber nur an Das Urteil, Hildegard Knefs autobiografischen Schicksalsroman, in mir fort.
Fast alle dieser uns nahen Toten lassen mich in Ruh. Sie rücken keinem mehr auf den Pelz. Auch weil sie uns niemand mehr in den Pelz zu setzen sucht. Sie lassen uns allen Raum der Welt. Dasselbe gilt auch für die meisten, die wir erst in den kommenden Jahren zu den Verstorbenen zählen müssen. Schon jetzt sind sie diskret geworden. Sie nehmen uns, den jüngeren Schreibenden, nichts weg.
Es ist doch seltsam, dass, gemessen an dieser generösen Zeitgenossenschaft der meisten nahen wie der meisten künftigen Toten, die knappe Handvoll Mandarine manchmal so bedeutungsschwer auf unseren Gemütern lasten. Vielleicht ist es ein übertragenes Gewicht, das diese drei oder vier Figuren tragen, ein symbolische Schwere, die das Gewicht ihrer still gewordenen Weggenossen klammheimlich einschließt.
Was wird aus dieser merkwürdigen Gesamtlast, wenn die jeweiligen Stunden schlagen? Die drei, vier öffentlichen Körper werden - vermute ich - mit dem Ende der fleischlichen Leiblichkeit auch ihr Symbolgewicht verlieren. Fast alles wird dann zu fast nichts verpuffen. Ich frage mich, ob wir als Lesende und Schreibende, wenn dies geschieht, entlastet schweben und leichter atmen oder vielmehr in einer Art von Vakuum japsen und taumeln werden.

Georg Klein, geboren 1953, ist Schriftsteller in Ostfriesland und Berlin. Zuletzt erschien von ihm der Roman Barbar Rosa.


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