Wie schafft man es, einen Film in einer Organisation zu drehen, der Menschen weltweit mit Kritik und Spott begegnen? Einer Organisation, die für viele zum Symbolbild des Kapitalismus geworden ist wie das World Economic Forum in Davos? Marcus Vetter steht in seiner blauen Daunenjacke vor den vollen Rängen der Osthalle des Hauptbahnhofes in Leipzig. Im Rahmen des 62. Internationalen Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm präsentiert er heute Abend seinen Eröffnungsfilm Das Forum. „Ich musste natürlich um Vertrauen bitten“, erklärt Vetter, ganz so, als wäre es ein Kinderspiel. Aber wie macht man das? „Du musst deinen Protagonisten erst mal lieben.“
Es wird ein Satz werden, der die ganze Festivalwoche begleitet, kn&
oche begleitet, knüpft er doch damit an das Thema des in diesem Jahr neu geführten Symposiums an, das als Reaktion auf die aufkeimende Kritik der letzten beiden Jahre an DOK Leipzig ins Leben gerufen wurde. Im Visier standen die Filme Montags in Dresden (2017) und Lord of the Toys (2018) aufgrund der unkommentierten Wiedergabe menschenverachtender Aussagen. Logische Konsequenz also das diesjährige Thema des Symposiums: Wem gehört die Wahrheit? Es ging um die Frage der Annäherung von Dokumentarfilmern an ihre Protagonisten und die Identifikation des Einen mit dem jeweils Anderen.Eine außergewöhnliche Form der Annäherung bot der Film Space Dogs von Elsa Kremser und Levin Peter aus dem Internationalen Programm. Im wackligen Himmelblau gefangen und umgeben von knackenden Geräuschen wird der Zuschauer – wie einst auch Hündin Laika – ins Dunkel des unendlichen Weltraums katapultiert. Der Blick fällt auf die wankende Erdoberfläche, während eine überirdische, sonore Stimme aus dem Off in die Legende einweiht: Laikas Geist irrt seit ihrem Tod in den Straßen Moskaus umher. Zurück auf der Erde begleitet die Kamera zwei Straßenhunde durch Parks und Industriegebiete vorbei an Bars und Bushaltestellen der heutigen Stadt Moskau. Ein solcher Straßenhund war auch Laika, bis sie 1957 ohne die Möglichkeit zur Wiederkehr ins Weltall geschossen wurde. Mittendrin werden immer wieder Originalaufnahmen der sowjetischen Versuche an Hunden zur Vorbereitung auf ihre Weltraumreise eingewebt.Rummel der TäuschungenDie Perspektive der Straßenhunde ist die mit direktem Blick auf den Asphalt. Sie fordert den Zuschauer heraus, die Nase in den Dreck zu stecken: Permanent durchforsten die Hunde die Hinterlassenschaften der Menschen auf den Straßen, in den Parks und den Mülltonnen der Stadt nach Essbarem. Ab und zu werden sie dabei sogar von den Verursachern des Mülls unterstützt. Wer glaubt, Space Dogs sei eine süße Tierdoku, irrt. Kremser und Peter zeigen die Sprache der Macht auf der Straße. Jagen oder gejagt werden, ist die Devise. Es ist eine liebevoll erzählte, aber ungeschönte Geschichte nicht nur über das Leben von Straßenhunden, sondern über die Ermächtigung des Menschen über Tiere im Geiste der Wissenschaft.Jacqueline Zünd wiederum stellt mit ihrem Film Where we belong Kinder in den Mittelpunkt der Betrachtung, deren Eltern sich getrennt haben. Drei Familien begleitet sie in ihrem Alltagsleben und lässt in ihren Film die Erzählung von Geschwisterkindern über die Geschichte, die Gründe und ihren persönlichen Umgang mit der Trennung der Eltern einfließen. „Was mich fast immer traurig macht, ist der Moment, in dem ich klar denken kann“, sagt Carleton, während er durch den Matsch stampft. Nach der Trennung ist er mit seiner größeren Schwester ins Heim gezogen. Obschon die Kinder sich nicht in ihrer Trauer vergraben, die Melancholie über das Erlebte schwingt immer mit.„Einen Fehler haben meine Eltern nicht gemacht. Sie haben uns einfach gezeigt, wie man durchs Leben kommt.“ Es sind auch solche Sätze, die die scheinbare Unbekümmertheit durchbrechen und von großer Klarheit und Rationalität der Kinder zeugen. Lange vor der Volljährigkeit scheinen sie erwachsen geworden. Zu welchem Preis? Die Bilder der spielenden Kinder auf dem Rummel, die Zünd mantraartig einbaut, werden zum Kontrastbild der Realität. Letztlich können sie nur wenig über die nüchternen Einsichten der Kinder hinsichtlich Familie, Beziehung und das Leben selbst hinwegtäuschen.Anders als erwartet bleibt die Auseinandersetzung der Eltern auf der Leinwand aus. Nach dem Motto „Kinder an die Macht“ kommen ausschließlich die Kinder zu Wort. Es ist ihre Geschichte und dementsprechend inszeniert Zünd sie manchmal wie Stars in einem Musikvideo: In den schillerndsten Farben werden sie ausgeleuchtet, schauen dem Zuschauer dabei lange in die Augen, bis sie sich selbst darin spiegeln. Je öfter das passiert, desto schneller nutzt sich der Effekt jedoch für den Zuschauer ab.Und wie steht es um die Protagonistin des Festivals? Seit fünf Jahren ist die Finnin Leena Pasanen Festivalleiterin von DOK Leipzig, ab dem nächsten Jahr leitet sie das „Biografilm Festival“ in Bologna. Als Pasanen 2015 antrat, war es ihre Aufgabe, das Festival internationaler zu verankern. Es wurde umstrukturiert; jahrzehntelange Mitarbeiter des Programms wie Grit Lemke gingen. Das Programm DOK Neuland für interaktive Arbeiten im Bereich Virtual Reality wurde entwickelt, außerdem führte Pasanen die kostenlosen Vorführungen in der Osthalle des Hauptbahnhofes Leipzig ein. Beide Formate werden von den Zuschauern geschätzt, gerade bei DOK Neuland war es auch in diesem Jahr wieder schwer, Plätze zu bekommen.In der Öffentlichkeit wurde Pasanen als unscheinbar wahrgenommen, ihre Interviews gab sie stets in Ruhe und Bestimmtheit auf Englisch. DOK Leipzig ist eine Tochtergesellschaft der Stadt Leipzig, die zum Ende von Pasanens Amtszeit die fehlende Verankerung in der Stadt beklagt. Pasanen hingegen nennt den Umgang mit den Verantwortlichen der Stadt Leipzig als einen Grund ihres Abgangs. 2018 noch führte sie eine Frauenquote von 40 Prozent im Deutschen Wettbewerb ein, dieses Jahr stammten 7 von 10 Filmen aus weiblicher Regiehand. Dafür gab es vom Leipziger Publikum regen Applaus.Ob es den beim Neuen auch geben wird? Ab 2020 übernimmt Christoph Terhechte, der zuvor Leiter des Internationalen Forums des Jungen Films bei der Berlinale und künstlerischer Leiter des Internationalen Filmfestivals Marrakesch war. Als Vorbereitung für seine anstehenden Arbeit bei DOK Leipzig hat er sich vorgenommen, viele Gespräche mit den Mitarbeitern und Festivalgästen zu führen. Als ehemaliger Journalist dürfte Terhechte jedenfalls wissen, worauf es dabei ankommt.