Sarrazin & Co Man wird ja wohl noch sagen dürfen: Der Idiot der Familie spricht aus, was andere verschweigen, sieht sich deshalb als Aufklärer und stärkt nebenbei die kritische Abwehr
Eu’r Lügenköder fängt den Wahrheitskarpfen.“ So steht es in Shakespeares Hamlet, und es bezieht sich auf folgende Situation: Der dänische Prinz muss Wahnsinn vortäuschen, um die Wahrheit über den Tod seines Vaters zu erfahren. Er spricht dadurch aus, was die anderen nur denken und wird darüber bedauerlicherweise wirklich wirr. Nur: „Ist dies Tollheit, hat es doch Methode.“ Die kühne Behauptung, ein Brudermord liege vor, zeigt an, was faul ist im Staate Dänemark. Die Leichen, die das Stück produziert, stinken zum Himmel! Hamlet ist der Idiot der dänischen Königsfamilie, so wie Thilo Sarrazin der Idiot der SPD-Familie ist und Peter Gauweiler derjenige der CSU. Mit dramatischem Auftritt galoppieren sie durchs
sie durchs heimische Kaminzimmer, in dem sonst nur kleine Scheite knacken, und gießen aus einer kalkulierten Verrücktheit Öl ins Feuer. Hinterher muss sich die Sippe dann darüber verständigen, ob der- oder diejenige noch tragbar sei und wenn ja, mit welchen Konsequenzen.Bei Thilo Sarrazin ist es nach dem Erscheinen seiner biologistischen Migrationsstudie Deutschland schafft sich ab noch mal gut gegangen. Er durfte in seiner Partei bleiben und musste lediglich aus dem Vorstand der Bundesbank entfernt werden. Immerhin hatte die ganze Aufregung auch etwas Gutes. Man kann heute in der SPD entspannter über Versäumnisse der Migrationspolitik sprechen, über nationale Identität und neuerdings auch über die Risiken des Euro. Sarrazin, der Idiot der sozialdemokratischen Familie, hat frischen Wind in den Clan gebracht. Ist er nun ein perfider Zerstörer oder ein duldsames Genie? Und wie verhält es sich eigentlich mit den anderen? Schließlich ist er doch nicht der einzige Idiot seiner Gattung. Annäherung an einen sozialen Typus:Die Evidenz der Zahlen1971 hat Jean-Paul Sartre eine epische Flaubert-Biografie veröffentlicht, die sich ebenfalls mit der Figur des Familienflegels beschäftigt. Sie trägt den Titel Idiot der Familie und stilisiert den Romancier zum genialen Außenseiter. Mit sieben hatte der ungeliebte Sohn noch nicht lesen gelernt, mit neun begann er zu schreiben und sein „schlechtes Verhältnis zu den Wörtern“ zu pflegen, so Sartre über den kleinen Flaubert – er „irrealisiert sich ins Irreale“ und wurde so zum Erneuerer des europäischen Romans.Denn Flaubert glaubte an die Präsenz von Zeichen so wie Sarrazin an die Evidenz von Zahlen. Er war ein Fundamentalist, jederzeit bereit, den Buchstaben mit der Wirklichkeit zu vertauschen und schuf somit eine realistische Literatur, die paradoxerweise die Außenwelt als Referenzpunkt nicht mehr nötig hatte, die so autonom war wie der Buchstabe in den Schriften des Judentums. „Mit 15, mit 20 Jahren“, schreibt Sartre, „hat sich Flaubert seine Meinung gebildet: Er wird mitleidlos verdammt sein. Nur hat er die bittere Genugtuung zu wissen, dass er der Auserwählte des Teufels ist: Schließlich sind es die größten Seelen, die am strengsten bestraft werden. Das versteht sich von selbst, denn die Qualität eines Menschen ist nichts anderes als seine Kraft zu leiden.“Man kann von Glück sagen, dass diese Stilisierung erst nachträglich von einem Philosophen vorgenommen wurde, der 20 Jahre zuvor bereits den armen Pornoschocker Jean Genet in eine ungute Märtyrerrolle hineinkomplementiert hatte und damit vermutlich zuallererst sich selbst meinte (Titel des über 1.000 Seiten langen Essays: Saint Genet, Komödiant und Märtyrer).Rufer in der WüsteSelbstbeschreibungen, die sich aus narzisstischen Kränkungen, übersteigerten Grandiositätsgefühlen und intellektuellen Überlegenheitsgesten (Ich sehe was, was ihr nicht seht) ableiten lassen, generieren zuverlässig Bilder vom verrückten Diktator. Man kann sich einer gewissen Faszination nicht erwehren, die auch von harmloseren Rufern in der Wüste ausgeht. Denn Thilo Sarrazin hat ein sicheres Gespür für Themen, die seiner Parteifamilie unter den Nägeln brennen. Einer muss es eben anpacken – und wenn sein Atem nur ausreichend lang ist, wird er für den aktuell erlittenen „Rufmord“ entschädigt – in der Regel in Form von symbolischem Kapital außerhalb der eigenen Familie.Weil sich Sarrazin ja so gerne auf Zahlen und Fakten, also auf eine vermeintliche wissenschaftliche Objektivität beruft, sollte man die Exoten des Wissenschaftsbetriebs nicht außen vor lassen. Auch hier gibt es ein paar ziemlich erfolgreiche Familien-Idioten. Peter Sloterdijk ist zwar ein von den großen philosophischen Fakultäten verschmähter Querdenker, dem man jetzt auch noch die vernuschelte Moderation des Philosophischen Quartetts zugunsten des im Wortsinn noch viel idiotischeren Richard David Precht entzogen hat, aber sein intellektuelles Dissidententum, das er etwa mit provokativen Schriften über die Menschenzucht (Regeln für den Menschenpark) zementierte, ist nichts gegen die Leistungen eines Kopernikus oder eines Galilei. Beide mussten gegen den Mainstream ihrer jeweiligen Epoche anforschen. Der französische Wissenschaftstheoretiker Georges Canguilhem hat gezeigt, wie das funktioniert. Denn auch Wissenschaft unterliegt historischen Prämissen. Tautologisch gesprochen: Es kann nur gewusst werden, was auch gewusst werden kann. Wer die Grundlagen der aktuellen Wissenskultur ändern will und behauptet, die Erde kreise um die Sonne und nicht umgekehrt, bringt alle gegen sich auf.Match Point für den IdiotenEs gibt sie also durchaus, die nicht-kriminelle Idioten-Dämmerung. Denn nicht jeder, der in seiner Familie herumpöbelt, wird hinterher auch zu deren Tyrann. Sarrazin spielt eher in einer Linie mit Ernst August von Hannover aus dem edlen Geschlechte der Welfen. Der temperamentvolle Gatte von Caroline von Monaco und Urenkel des letzten deutschen Kaisers hat zusammen mit den englischen Royals, Gloria von Thurn und Taxis sowie der Geisterbeschwörerin Märtha Louise von Norwegen die steife Ordnung des europäischen Hochadels humanisiert.Paradigmatische Familien-Idioten hat auch die katholische Kirche mit ihren verstoßenen Söhnen vom Schlage eines Eugen Drewermann zu bieten (Grund waren „Differenzen“ bei der Bibelauslegung). Erst kürzlich warnte er bei einer als Vortrag getarnten Predigt über Dostojewski, nicht zufällig Autor eines Buchs namens Der Idiot, vor dem „Fetisch Wachstum“ und wetterte gegen „die Reichen“. In einem Interview im Märzheft des Philosophie Magazins sieht man Eugen Drewermann in seiner plüschigen Junggesellenwohnung neben der netzbestrumpften Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken schwitzen.„Homosexualität kann genetisch bedingt sein“, sagt er. „Das halte ich für einen ideologisch begründeten Trugschluss“, sagt sie. Wie Sarrazin beruft Drewermann sich auf „Forschungsdaten“. Die beiden reden unablässig aneinander vorbei – sagt er „Darwin“, sagt sie „Lévi-Strauss“ – und dennoch ist ihr Gespräch lehrreich, weil sich Drewermann als kluger Idiot der intellektuellen Diskurs-Community erweist und mit seinen als überholt geltenden Ansichten zur Geschlechterfrage auf eine arrogante Barbara Vinken trifft, die ihr Rechthaben für nicht weiter erklärungsbedürftig hält. („Bloß ist es einfach nicht der Fall und nicht der Stand der Dinge.“) Vor einem weniger beschlagenen Publikum müsste man klar sagen: Match Point für den Idioten. Und ex post also auch Match Point für die katholische Kirche.Idiotie und IdeologieUnd wo es hier gerade um Geschlechterfragen geht: Nach einer Blitzumfrage im redaktionellen Umfeld fallen einem die weiblichen Idiotinnen nicht gerade vor die Füße. Liegt es möglicherweise daran, dass Frauen stärker an einem differenzierteren Selbstbild gelegen ist als vielen ihrer männlichen Kollegen? Dass sie sich vor einer Verenggung der privaten Person auf ihre öffentliche Rolle scheuen, sie also deshalb bis auf einige Ausnahmen weniger zur inkorporierten Feuerthese auf zwei Beinen neigen? Eva Herman wäre da eine würdige Gegenkandidatin. Doch sie hat sich mit ihrem Eintreten für ihr krudes, rechtskonservatives Familienmodell derart idiotisch angestellt, dass sogar Johannes B. Kerner, der alte Heuchler, sie vor 2,65 Millionen Zuschauern von seiner Talk-Show-Couch verweisen und ihr Arbeitgeber, der NDR, sie gleich ganz entlassen musste. Dabei befürchtete Herman genau wie Sarrazin doch nur das tragische Aussterben der Deutschen.Überhaupt scheint es einen Zusammenhang zwischen Idiotie und Ideologie zu geben. Besonders in der Kategorie der gewissensreinen Alters-Idioten wird man leicht fündig. Nicht zuletzt Günter Grass verwendete seine vorläufig letzte Tinte, um die Deutschen von ihrem historisch schlechten Gewissen zu befreien. Man dürfe Israel und solle Griechenland nicht kritisieren, sagt er. Deutschland müsse aufhören der Zahlmeister der südeuropäischen Faulenzer zu sein, sagt Thilo Sarrazin: Der Familien-Idiot ist ein hysterischer Fundamentalist.Bei Flaubert beschränkte sich der Überlegenheitswahn auf ästhetische Fragen. Anderen geht es ums nationale Ganze. Gemeinsam ist ihnen der Wunsch, eine verlorene Einheit (die Reinheit des Blutes) oder Natürlichkeit (die aufopferungswillige Mutter) wiederherzustellen. Die einen gehen daran zugrunde (Hamlet, Madame Bovary), andere werden zu innovativen Künstlern (Flaubert). Der Rest geht an die Öffentlichkeit (Sarrazin, Grass) – es muss als Auftrag ans kritische Denken verstanden werden.Anders gesagt: Der Familien-Idiot ist ein peinlicher Störenfried. Für manchen Gedankenimpuls muss man ihm dennoch dankbar sein, vor allem dafür, dass er unsere aufklärerischen Instinkte schult. Denn wie heißt es so schön im allseits bereiten Hamlet: „Wahnsinn bei Großen darf nicht ohne Wache gehen.“
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