Die neue Mitarbeiterparole

Theorieorgan Das „Kursbuch“ will noch einmal Selbstverständigsmedium der außerparlamentarischen Bewegung werden – mit der Empfehlung, die Krise zu lieben

Das Kursbuch ist wieder da. Es passt in die Zeit, erscheinen doch jetzt in diesem Frühjahr so viele Bücher und Broschüren, die über die bevorstehende Revolte nachdenken und schon deshalb auch an die letztvergangene erinnern. In den Jahren um 1968 war das Kursbuch neben dem Argument das wichtigste Theorie- und Selbstverständigungsorgan der außerparlamentarischen, vor allem studentischen Bewegung. In einem rückblickenden Text erzählt Henning Marmulla, wie sich etwa im Heft 11, „Revolution in Lateinamerika“, die Positionen von Peter Weiss und Hans-Magnus Enzensberger, dem Herausgeber der Zeitschrift, gegenüberstanden. „Das einzig Richtige ist, ein Gewehr zu nehmen und zu kämpfen“, schrieb Weiss in seinem Nachruf „Che Guevara!“. Enzensberger betonte, zuerst müssten die Köpfe verändert werden.

Das neue Kursbuch erscheint unter der fortlaufenden Nummer 170, es will an die damalige Zeit anknüpfen (und weniger an den gescheiterten Wiederbelebungsversuch der Zeitschrift von 2005 bis 2008 durch Michael Naumann und Tilman Spengler). Dass wir in der Krise leben, scheint Grund genug. Das Heft heißt „Krisen lieben“. Verbindungen seien sichtbar zu machen, habe Enzensberger schon damals geschrieben, wie in einem Kursbuch eben, und darum gehe es heute auch.

Wunderliche Beschwörung

Allerdings habe er für das Projekt „Renovierungskünstler“ gebraucht, schreibt der neue Verleger Sven Murmann, und nicht „komische alte Säulenheilige“. So fand er seinen Herausgeber Armin Nassehi, einen in München lehrenden Soziologen, der sich auf Niklas Luhmanns Spuren bewegt. Die Zusammenarbeit mit Chefredakteur Peter Felixberger läuft offenbar gut, denn nicht nur Nassehi selbst ist mit einem programmatischen Text im Heft vertreten, sondern knapp die Hälfte der Autoren und Autorinnen beruft sich auf ihn.


Nassehis Botschaft ist, dass Krisen die normalste Sache der Welt seien. Die Euro- und Europakrise zum Beispiel werfe nur „ein Licht auf die Vorläufigkeit allen Geschehens“. Ihm sekundiert der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe: „Wieso nehmen wir im Bewusstsein ihrer regelmäßigen Wiederkehr Wirtschaftskrisen nicht einfach nur hin?“ Wir wüssten doch längst, „dass es keine immerwährenden Aufschwünge geben kann“.

Wenn wir dann Gunter Dueck lesen, den das Editorial als „Wirtschaftsphilosophen“ bezeichnet – er war Chief Technology Officer der IBM Deutschland –, begreifen wir, dass wir der Kreation einer neuen Mitarbeiterparole beiwohnen. Dueck echauffiert sich über Manager-Sprüche wie „Eine Krise kann und muss als Chance begriffen werden“. Er selbst leidet zwar darunter, dass die wahre Krise nicht ernst genommen werde. Sie sei eine des Übermaßes. Gegen sie müssten „das Wissen um die gesunde Mitte, die Vorsicht, die Umsicht und die Ruhe“ wieder zur Geltung kommen. Im Kontext des Heftes animiert sein Text aber nur zur Suche nach neuen Sprüchen – oder alten wie dem von Altbundeskanzler Helmut Schmidt, der einst eine „Krise in den Köpfen“ sah. Wunderliche Beschwörung des Erbes von 1968!

Konsumistische Anspruchshaltung

Wenn sich die Heiterkeit etwas gelegt hat, fragt man sich, ob nicht auch in so einer Zeitschrift gute Texte zu finden sein könnten. Ja, es gibt sie. Florian Rötzers „Streifzug durch neue Öffentlichkeiten“ präsentiert neueste Ergebnisse aus der Erforschung der Internet-Lebenswelt. Das Internet sei „zum epidemischen Verstärker kollektiver Trends“ geworden, fasst er zusammen. Konformität erwachse gerade „aus den zahllosen Interaktionen der Individuen“. Denn so frei diese sich auch bewegen, unterliegen sie doch der „Regel, nach der sich Neuronen, die regelmäßig zusammen aktiv sind, enger miteinander verbinden“.

Auch Wolfgang Schmidbauers Text „Über die Krisen der Psychotherapie“ ist lesenswert. Wir erfahren etwas über die konsumistische Anspruchshaltung, mit der heute nicht wenige Patienten den Seelenarzt aufsuchen. Das Bedürfnis wachse, „von Therapeuten nicht über die verborgenen, grandiosen Wünsche und die Verweigerung der alltäglichen Arbeit unterrichtet zu werden“. So ist das: Die einen lieben ihre Abwehr und andere wollen nicht über die Wirtschaftskrise unterrichtet werden. Das Kursbuch funktioniert, Verbindungen springen tatsächlich ins Auge.

Kursbuch Nr. 170 Krisen lieben, Armin Nassehi (Hg.), Murmann 2012, 192 S., 19

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Geschrieben von

­Michael Jäger | Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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