Barbarisch", der Begriff hat Konjunktur. Er wurde für die Ermordung des Journalisten Daniel Pearl vor laufender Kamera und für die Erschießung von Sanitätern des Roten Halbmonds ebenso verwendet wie für den jüngsten Bomben-Anschlag auf Bali und den Anschlag auf das New Yorker World Trade Center sowieso. Im israelisch-palästinensischen Konflikt zählt die Kampfvokabel seit Jahren zum Standardrepertoire der Auseinandersetzungen. "Wir müssen diesen Terror bekämpfen, in einem kompromisslosen Krieg, um diese Wilden auszurotten", so Ariel Sharon. Wladimir Putin nennt die WTC-Anschläge "barbarische Akte, die sich gegen gänzlich unschuldige Menschen richteten", und der britische Premierminister Tony Blair nennt Saddam Husseins Herrschaft im Irak warnend ein "barbarisches Regime".
Zombie-Begriffe
Was hat es mit dem Begriff auf sich? Im Menschenrechtsdiskurs fungiert das "Barbarische", das Unmenschliche, als dunkler Gegenpol zu der positiv besetzten Vorstellung davon, was Menschen als solche auszeichnet. In der Zivilisationstheorie dient "die Barbarei" als Fluchtpunkt, von dem gesellschaftliche Entwicklung sich wegbewegen soll. Vor dem Hintergrund der aktuellen Globalismuskonflikte (Globalismus meint die neoliberale Ideologie und Weltkolonisierungseuphorie) wird der Barbarenbegriff jedoch vor allem für die Dämonisierung von Fremden eingesetzt, man spricht vom "War on civilization".
Als im antiken Griechenland der Begriff "Barbaros", wörtlich: Stotterer, geprägt wurde, war er auf eine Person gemünzt, die nicht des Griechischen mächtig ist. Für die offenbar sehr selbstherrlichen frühen Griechen war es so, als könnte ein solcher Mensch nicht richtig sprechen. Die Tatsache, dass der Barbarenbegriff mittlerweile im Menschenrechtsdiskurs ein weithin akzeptiertes Kriterium darstellt, macht ihn wohl besonders attraktiv für die Verurteilung oder Diffamierung eines politischen Gegners und zur Legitimation der eigenen Strategie. So droht im beginnenden 21. Jahrhundert der Kampf an immer neuen "Barbarengrenzen" zum Normalfall zu werden.
Im November 2001 hielt der Soziologe Ulrich Beck vor der Duma in Moskau eine Rede über die politische Dynamik der "Weltrisikogesellschaft". Darin prangerte er vor allem die "Zombie-Begriffe" unserer Zeit an, Begriffe, "die gestorben sind, aber in unserem Denken und Handeln weiter regieren". Tradierte Unterscheidungen wie jene zwischen "Krieg und Frieden", "Militär und Polizei" oder "Angriff und Verteidigung" seien durch die zeitgeschichtlichen Entwicklungen aufgehoben, das heißt eigentlich nicht mehr tragfähig. Phänomene wie der neue Terrorismus der al Qaida oder das unilaterale, imperiale Vorgehen der USA führen zweifelsohne zu einem beschleunigten Veralten politischer Terminologie. Ulrich Beck fasst die veralteten Worte in der Metapher des "Wiedergängers" und will dazu motivieren, die eingefahrenen Geleise politischer Semantik zu verlassen. Der Ausdruck "Barbar" ist auch einer jener Zombie-Begriffe. Die propagandistische Diffamierung politischer, genauer: strategischer Gegner mit Hilfe des Barbarenbegriffs entspricht ganz dem selbstherrlichen Stil der antiken Griechen oder des römischen Imperiums. Und wie Philip Golub kürzlich in Le Monde Diplomatique (September 2002) gezeigt hat, vergleichen konservative Intellektuelle in letzter Zeit die USA gerne ausdrücklich mit dem Römischen Reich.
Feinbild Orient, Feindbild Okzident
Eine Korrektur des imperialistischen Denkens und Handelns versuchte der Literaturwissenschaftler Edward Said bereits in seinem Buch Orientalism von 1978. Seine These: Es gebe im westlichen Denken die ungebrochene Tradition einer tief sitzenden Feindseligkeit gegenüber dem Islam. Dies, und nicht bloß die akademische Disziplin der Orientstudien, bezeichnet Said als "Orientalismus".
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatten "der Osten" (die Sowjetunion) und "der Orient" Gefahr und Bedrohung verkörpert. Der Orient half aber auch, Europa oder den Westen zu definieren, da diese sich von ihm - imaginär, stilistisch und in der alltäglichen Praxis - abgrenzen konnten. Das Überlegenheitsgefühl gegenüber dem Orient, so Said, sei immer noch ein beachtlicher Teil der modernen politisch-intellektuellen Kultur unserer Gegenwart. Seine Analyse richtete sich gegen ein pauschales Feindbild "des" Westens, was diesem in Gestalt der "postcolonial studies" eine Fülle von Selbstkritik wie auch von externer Kritik eingebracht hat. Mit der gleichen Aufgabe muss sich nun auch "die" islamische Welt auseinandersetzen.
In Analogie zum "Orientalismus", also der Feindseligkeit gegenüber dem Islam, wird heute ein "Okzidentalismus" diagnostiziert, ein Konglomerat von Ideen, Bildern, Vorurteilen, Autoritätsverhältnissen, Gefühlen, die sich gegen "den" Westen richten. Rund ein Vierteljahrhundert nach Saids Studie veröffentlichten der Philosoph Avishai Margalit und der Schriftsteller und Asienexperte Ian Buruma eine Analyse dieses Okzidentalismus. In ihrem Essay Occidentalism (The New York Review of Books, 17, 2002; Dt. in Merkur Nr. 636) gehen sie der Frage nach, welche Art von Hass al Qaida und andere Antiwestler verbindet. Gegen "städtische" Gier, Selbstsucht und Korruption stellt der Okzidentalismus die Figur des frommen Bauern. Als Alternative zu Wissenschaft und Technik preist er tiefe Gefühle, ein profundes Verständnis für das Leiden sowie für das Ganze und Absolute. Eine dritte Zielscheibe bildet der Bourgeois mit seinem Bedürfnis nach einem sicheren Leben. Stattdessen kokettieren die "heiligen Krieger" mit dem Tod und flirten heldenhaft mit der Gewalt. Als viertes okzidentalistisches Feindbild erscheint die Emanzipation der Frauen, deren wahre Aufgabe doch darin liege, heroische Männer zu gebären.
Orientalismus auf der einen Seite, Okzidentalismus auf der anderen: Ist also an die Stelle des Duells zwischen zwei Supermächten der Kontrast zwischen zwei entgegengesetzten Feindbildern getreten? Auf der Propaganda-Ebene fungiert die Orient-Okzident-Dichotomie jedenfalls als aktuelles Angebot einer gewissen Übersichtlichkeit. Und gehören Formen der Abgrenzung der eigenen Gruppe von anderen nicht immer zum sozialen Standardrepertoire? "Die Anderen" haben nicht dieselben oder überhaupt keine Gefühle, sie denken nur ans Geld, nur an Sex und so weiter. In der Konfiguration Orientalismus versus Okzidentalismus, so scheint es, hat diese auf dörflicher und staatlicher Ebene althergebrachte Form der simplen Gesellschaftsordnung globale Ausmaße angenommen.
Diffuse Gegnerschaften
Die Feindbilder verschränken sich ineinander. Es gibt heute einen breiten Mainstream an politischer Korrektheit, und mit Edward Said halten wir im Sinne dieser political correctness die orientalistische Denkweise für barbarisch (aktuelles Beispiel: George W. Bushs "Kreuzzug"). Die Orientalisten selbst wiederum halten die Menschen des Orients für Barbaren, für zivilisatorisch, wenn nicht sogar rassisch unterlegen. Mit Buruma und Margalit könnten wir die Okzidentalisten Barbaren nennen, wenn sie "heldenhaft" mit Tod und Gewalt flirten. Und umgekehrt halten die Okzidentalisten die "dekadenten" Westler für Barbaren, für gierige, gefühlskalte und unheroische Wesen. Werden wir also Zeugen einer Verallgemeinerung des Barbarenstereotyps? Das verwundert, denn unsere Zeit zeichnet sich doch angeblich gerade durch eine schwindende Bedeutung des Territorialen aus. Sollten nicht die Relativierung nationalstaatlicher Grenzen und die so genannte "Glokalisierung", das heißt die Verschränkung von lokalen und globalen Faktoren, die Idee der Barbaren als äußere Feinde überflüssig machen?
Manche sehen die Zeit einer Weltregierung anbrechen, welche die politischen Rahmenbedingungen regelt und für die Einhaltung der Menschenrechte sorgt. Andere, wie der Politikwissenschaftler Claus Leggewie, sehen im Gefolge der zahllosen, äußerst einflussreichen transnationalen Nichtregierungsorganisationen (NGO) neue demokratische Formen erblühen. Die regionalen und nationalen Parlamente sollen ergänzt werden durch Voten transnationaler Bürgerinnen, die sich nach gemeinsamen Anliegen oder beruflichen Kompetenzen organisieren. Und schließlich gibt es auch noch jene, die vehement an ihren Zombie-Begriffen festhalten. Samuel Huntingtons Metapher vom Zusammenstoß der Zivilisationen ist dafür das bekannteste Beispiel. Doch die konkurrierenden Feindbilder sind heutzutage keine Blöcke mehr wie noch in Zeiten des Kalten Kriegs, massive Gebilde, die aufeinanderprallen können wie die Hörner kämpfender Steinböcke. Und die Zielvorstellungen von Feindbild-Agenturen sind meist nicht so differenziert und pointiert wie das, was Said, Margalit und Buruma als Orientalismus beziehungsweise Okzidentalismus beschrieben haben.
Zwei der momentan einflussreichsten Feindbilder etwa, nämlich jenes der Bewegung von Seattle und jenes der al Qaida, sind ideologisch und politisch ausgesprochen diffus. Es ist gerade diese Verschwommenheit, welche den beiden Stereotypen so großen Zuspruch in ihren jeweiligen Lagern sichert. Die Bewegung von Seattle versammelt Umweltschützer wie Gewerkschaftler, Christen wie säkulare Menschenrechtler, Reformer, Revolutionäre wie Libertäre, die in einzelnen Fragen klar gegensätzliche Haltungen einnehmen. Unscharf und konturlos ist wohl auch das politisch-ideologische Dach der al Qaida, die Ulrich Beck treffend als "Gewalt-NGO" bezeichnet hat. Einigend wirkt für die Sympathisanten und Financiers von al Qaida vor allem der gemeinsame Feind. Dabei ist es sicher kein Zufall, dass sich beide Feindbilder in Form von transnationalen Nichtregierungsorganisationen manifestieren. Ihre Organisationsform entspricht den neuen Rahmenbedingungen von Entgrenzung und Globalisierung. Und es ist auch kein Zufall, dass beide Feindbilder anti-amerikanistischen Zuschnitts sind. Die USA stellen politisch, militärisch und kulturindustriell weltweit die größte Einflussgröße dar. Egal, wie akzeptabel oder inakzeptabel nun einzelne Methoden und Momente der Kritik einer dieser transnationalen NGOs für uns auch sein mögen, letzten Endes stellen beide uns vor ein und dieselbe "einfache" politische Entscheidung. Wollen wir den breiten Motivationsschub durch ein diffuses Feindbild und die hohe Schubkraft der vielen Verbündeten? Oder begnügen wir uns mit einer geringeren Zahl von Gleichgesinnten und konzentrieren uns auf das konkrete Ausstreiten eines politischen Ziels?
Der Text der Duma-Rede von Ulrich Beck, Das Schweigen der Wörter und die politische Dynamik der Weltrisikogesellschaft, ist kürzlich beim Suhrkamp-Verlag erschienen und auch unter der Internet-Adresse www.goethe.de/oe/ mos/archiv/ub_duma.doc abrufbar.
Theo Steiner ist Lehrbeauftragter an der Universität für Angewandte Kunst in Wien, er konzipierte das Symposium Barbaren. Kampfvokabel der Gegenwart, das im Rahmen des Festivals steirischer herbst (vom 14. - 16. November 2002) an der Universität Graz stattfinden wird.
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