Die Ost-Erweiterung und die Chefsache "Ost"

Streit um die EU-Finanzen Mehr Europa ist mit weniger Geld nicht zu machen

Mit dem Beitritt der zehn Länder Mittel- und Osteuropas sowie Zyperns und Maltas am 1. Mai nimmt die EU eine wahrhaft gesamteuropäische Dimension an, die West- und Ost-, Süd- und Nordeuropa zusammenführen soll. Doch ganz im Gegensatz zu den in der Vergangenheit gehaltenen wohlfeilen Sonntagsreden von Kanzler Schröder und Außenminister Fischer über die "Wiedervereinigung" Europas hat nunmehr ein kleinkarierter Streit um die Finanzierung dieses politischen Projekts begonnen. Vergessen ist das einst heilig gesprochene und im EU-Verfassungsentwurf erneut bekräftigte Solidaritätsprinzip, wonach die ökonomisch stärkeren Staaten den schwächeren helfen müssen, um riesige regionale Disparitäten schrittweise zu überwinden - das erfordert ganz einfach wesentlich mehr Mittel für die EU-Strukturfonds.

Exakt aus diesem Grund besteht die Brüsseler Kommission auf der in der "Berliner Agenda" des Jahres 1999 von den EU-Staats- und Regierungschefs vereinbarten Obergrenze für den Haushalt der EU von 1,24 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der Mitgliedstaaten. "Mehr Europa", so die Kommission, sei eben mit weniger Geld nicht zu machen. Demgegenüber wollen so genannte EU-Nettozahler wie Deutschland, Frankreich, die Niederlande, Schweden oder Österreich den Haushalt auf ein Prozent des BIP einfrieren. Begründet wird das mit schwierigen Haushaltslagen und den Vorgaben zur Neuverschuldung aus dem EU-Stabilitätspakt, die selbst Kommissionspräsident Romano Prodi in einem seltenen Anflug von Offenheit als "dumm" bezeichnete.

Doch was verbirgt sich tatsächlich hinter dieser unseligen Debatte? Wie bisher sollen die Interessen von Multis und Konzernen auch im Sog der "Wiedervereinigung" Europas freigiebig bedient werden, damit Großunternehmer und Banker die EU noch extensiver als ihre Spielwiese zur Gewinnmaximierung nutzen können. Der soziale Zusammenhalt - ebenfalls ein hehres EU-Ziel - bleibt so in Mittelosteuropa auf der Strecke.

Tatsache ist, dass Aktien besonders deutscher und österreichischer Unternehmen von der bevorstehenden Osterweiterung der EU bereits deutlich beflügelt werden. Erwartet wird ein kräftiger Schub beim Wirtschaftswachstum der 15 EU-Alt-Mitglieder von 0,5 bis 0,75 Prozent. Weit über den EU-Durchschnitt hinaus wird davon Deutschland als unmittelbarer Nachbar Polens und Tschechiens profitieren. Bereits heute bestreiten die zehn EU-Aspiranten etwa 40 Prozent ihres Handels mit der Bundesrepublik. Außerdem lässt sich in den Beitrittsstaaten wesentlich billiger produzieren. So beträgt der Stundenlohn eines Industriearbeiters in Estland ein Zehntel und im größten Beitrittsland Polen höchstens ein Viertel des vergleichbaren deutschen Wertes. Von Standortverlagerung und damit verbundener Kostensenkung profitieren bereits Konzerne wie Volkswagen und der Autozulieferer Continental in Tschechien und Ungarn. Continental zum Beispiel verlagerte bereits 50 Prozent seiner europäischen Produktion nach Osteuropa. Erwartet werden riesige Aufträge, sobald die Beitrittsländer mit Hilfe von EU-Fördermitteln ihre Infrastruktur ausbauen. Positioniert haben sich der Energieversorger RWE, die Telekom und Lufthansa sowie die Commerz- und Hypo-Vereinsbank über ihre Tochter Bank Austria. Der Einzelhandelskonzern Metro erzielt bereits 15 Prozent seines Umsatzes in Osteuropa.

Sollte sich statt der EU-Kommission die rot-grüne Bundesregierung im Streit um den EU-Haushalt und die Fördermittel durchsetzen, wird auch Ostdeutschland zu den Verlierern der Osterweiterung gehören, weil zu den bedürftigen und wirtschaftlich weniger entwickelten ostdeutschen Regionen noch bedürftigere aus Mittelosteuropa hinzukommen. Dadurch würden die neuen Bundesländer dann ihren bisherigen günstigen Förderstatus verlieren. Die "Chefsache Ost" von Kanzler Schröder und seinem Ostminister Stolpe würde ein zweites Mal entsorgt - nunmehr über den künftigen EU-Haushalt der Jahre 2007 bis 2013.

Die Autorin ist Vizevorsitzende der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) im Europaparlament.


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