Die Pandemie, über die man lieber schweigt

Depressionen Vier Millionen Menschen sind in Deutschland dauerhaft erkrankt. Warum werden die psychischen Leiden nicht zum Gesundheitsrisiko Nummer eins erklärt?
Ausgabe 41/2021
In Deutschland stehen gut 4 Millionen dauerhaft Depressionskranken insgesamt 4,3 Millionen Covid-Infizierte gegenüber
In Deutschland stehen gut 4 Millionen dauerhaft Depressionskranken insgesamt 4,3 Millionen Covid-Infizierte gegenüber

Foto: Linthao Zhang/Getty Images

Nicht jeder hat es mitbekommen: Wir schreiben die „Aktionswoche Seelische Gesundheit“, der Titel ist auch Folge eines Tabus. Wem die Seele schmerzt, der beißt sich lieber auf die Zunge – und schweigt. Es geht also in Wahrheit um seelische Erkrankungen. Und ihre weiteVerbreitung: Statistiken legen nahe, dass Depressionen und Ängste die Dimension einer Pandemie erreichen, ja toppen. Fände die „Mental-Gesundheit“, so der entstigmatisierende internationale Sprachgebrauch, so viel Beachtung wie das Coronavirus, läge dieser Dämon schon lange in Fesseln!

Anderthalb Jahre haben wir uns gedreht wie herumeiernde Brummkreisel. Geschäfte, Schulen, Kneipen geöffnet, zugesperrt. Beschossen von Zahlenfeuerwerken mit Inzidenzen, Neuinfektionen, verwirrt von Ausstößen sich täglich ändernder Verhaltensregeln. Corona und künftige Seuchen gebannt? Nein! Die größte lauert nicht draußen. Sondern innen. Die Megapandemie, dies ist die größte Ungereimtheit am Corona-Notstand, ignorieren wir. Seit langem. Zehn bis 15 Prozent aller Menschen hierzulande wie auch weltweit leiden unter Depressionen und Ängsten: quasi einer Infektion von innen, endogen, die oft auch tödlich verläuft. Suizidal und bisher ohne Impfhoffnung. Die Corona-Isolation hat die Erkrankung weiter forciert. Unter Depressionen – ohne spezifische Angsterkrankungen – leiden weltweit 322 Millionen Menschen. Im Vergleich zu insgesamt 236 Millionen Corona-Infizierten, von denen 214 Millionen bereits wieder genesen sind (WHO 10/2021).

In Deutschland stehen gut 4 Millionen dauerhaft Depressionskranken insgesamt 4,3 Millionen Covid-Infizierte gegenüber, von denen über 4 Millionen wieder genesen sind (Statista 10/2021). 94.000 Corona-Todesfälle vergleichen sich mit jährlich 9.000 Suiziden. Grund dafür sind meist Depressionen. Nur Promis wie Nationaltorwart Robert Enke (gestorben 2009) schlagen öffentlich Wellen.

Dieses Zahlenwerk wirft in der „Aktionswoche Seelische Gesundheit“ Fragen auf:

Warum wird die kritische Mentalgesundheit nicht zum Gesundheitsrisiko ersten Ranges erklärt?

Warum nimmt Big Pharma von seinen Gewinnen nicht ein paar Milliarden in die Hand, zur Entwicklung einer neuen Generation von durchschlagskräftigen Medikamenten? Seit dem Corona-Impfwettlauf wissen wir: Die können’s, wenn sie wollen – und wenn sie müssen!

Warum hat die Weltgesundheitsorganisation WHO, zusammen mit EU-Gesundheitsautoritäten und den nationalen Gesundheitsministern, nicht den Welt-Seelen-Notstand „World Mental Health Day“ am 10. Oktober ausgerufen? Die mentale Pandemie!

Die Gründe für diese Lethargie sind ebenso trivial wie tragisch. Seelenschwäche schmeckt der Leistungs-, Wachstums-, Ego-Gesellschaft nicht. Sie ist ein Bremsblock, ein Malus, anrüchiger als dereinst Pest und Cholera – in Schule, Arbeit, Politik. Obwohl sie immerhin erstmals am Rande ein Bundeswahlkampfthema war. Die 18-jährige Studentin Noreen Thiel, bekennend depressiv, bewarb sich für einen Parlamentssitz, mit dem Motto: „Mental Health Matters“. Und bekam via Twitter um die Ohren gehauen: „Depressive gehören nicht in die Politik!“

Wie viele andere Politiker, Manager (darunter ein ehemaliger Bertelsmann-CEO), Spitzensportler quälen sich mit ihren inneren Teufelchen und haben nackte Angst, sie sich selbst und anderen einzugestehen?

Dabei ist das gefürchtete Kainsmal, in das Depressionen und Ängste gepresst werden, reiner Fake. Sie sind zum großen Teil genetisch bedingt, wie bei Winston Churchill, der offen über seine „black dogs“ redete. Die Umwelt ist ein mächtiger Treiber. Das Hamsterrad, immer schneller, höher, weiter – nur wohin? Hinter dem modischen und gesellschaftlich akzeptierten „Burn-out“ steckt oft viel, viel mehr. Der dritte Akteur sind: wir selbst.

Wolfgang C. Goede ist Wissenschaftsjournalist

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