Die Pistensau in uns

Extremsportart Skifahren Extremsportarten wie der Abfahrtsskilauf sind zum industriell organisierten Massensport geworden. Brauchen wir dieses Ausleben so nötig, weil wir auch sonst so leben? Überlegungen zum Fall Althaus.

Der Ski-Unfall des thüringischen Ministerpräsidenten Althaus wirft viele Fragen auf. Wir müssen seine Situation als immer noch gefährdeter Patient respektieren, der gerade erst sein Bewusstsein wieder gewinnt. Das verbietet Spekulationen über Schuld und Verantwortung. Der Tod der Frau, mit der er auf der Piste zusammengestoßen ist, ist jedenfalls geschehen, weil beide einen hoch riskanten Sport betrieben haben.

Wir können darüber nachdenken, was es für unsere Kultur bedeutet, dass der Abfahrtsskilauf, der jedes Jahr einige Todesopfer und viele Verletzte fordert, zu einem industriell organisierten Massensport geworden ist. Was sind wir für eine Gesellschaft, dass kluge und leistungsfähige Individuen "zur Erholung" die Erfahrung von Einsamkeit, Freiheit und Risiko suchen, wie sie offenbar das "Schuss-Fahren" auf der gefährlichen Piste zu bieten hat?

Im Zirkus gibt es manchmal die Nummer der menschlichen Kanonenkugel, die sich mit großem Knall "abschießen" lässt und dann in einem geeigneten Netz aufgefangen wird. Derartige Netze gibt es auf den Skipisten nicht – und außerdem schießen hier immer mehrere gleichzeitig. Denn das ist das große Risiko, nicht etwa die Piste als solche. Es geht also nicht nur um den Schuss, es geht auch um eine potenziell aggressive Begegnung mit anderen.

Früher – in manchen Kreisen soll sich das ja immer noch halten – gab es den point d’honneur: "Sie haben mich schief angeguckt, ich fordere Sie auf Pistolen!" Da zielte die aggressive Geste auf den anderen als Person. Auf den Skipisten gibt es nur anonyme andere, bis hin zu einer Kleidung, die allenfalls noch Markennamen erkennen lässt.

Die Skiwelt macht sich ein gutes Gewissen: Eigentlich sind alle Zusammenstöße verboten – da sind die geltenden Regeln ganz klar: Extrem defensives Skifahren ist die einzig erlaubte Form der Fortbewegung auf den Skipisten. Die Realität sieht aber ganz anders aus: Das implizit praktizierte Ideal ist die so sehr gekonnte Aggressivität, dass dann doch nichts passiert. Aber das muss, mit rein statistischer Notwendigkeit, immer wieder auch schief gehen. Das kostet: Tote, Verletzte, Traumatisierte.

Brinkmanship, selbstbewusst bis an den Rand der Abgründe zu gehen und dabei doch "alles im Griff" zu haben, wird auf den Pisten als Lebensgefühl ausgelebt. Könnten wir uns vorstellen, dass wir als Kultur darauf verzichten – und etwa nur noch Langlaufski als Wintersport praktizieren? Oder brauchen wir dieses Ausleben so nötig, weil wir auch sonst so leben?

Ganz traditionell könnten wir sogar fragen, was wir in unserer Kultur, in unserer Gesellschaft, sonst verändern müssten, damit wir diese Art von "Massen-Extrem-Sport" nicht mehr brauchen. Damit wären wir – von einem nicht ungewöhnlichen Unfall ausgehend – wieder bei der großen Frage angekommen: In was für einer Gesellschaft wollen wir eigentlich leben?

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Geschrieben von

Frieder Otto Wolf

Ich lehre als Honorarprofessor Philosophie an der Freien Universität Berlin, bin Mitinitiator des Forums Neue Politik der Arbeit und Humanist.

Frieder Otto Wolf

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