Wahl-O-Mat: Die Postdemokratie-Maschine

Bundeszentrale Vor der Bundestagswahl erfreut sich das Angebot der Bundeszentrale für politische Bildung wieder großer Beliebtheit. Der Demokratie hilft das allerdings nicht wirklich
Wenn es vor der Wahl unübersichtlich wird, soll der Wahl-O-Mat helfen. Aber ob das wirklich demokratisch ist?
Wenn es vor der Wahl unübersichtlich wird, soll der Wahl-O-Mat helfen. Aber ob das wirklich demokratisch ist?

Foto: John Macdougall/AFP via Getty Images

Auch zur nahenden Bundestagswahl stellt die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) unentschlossenen Wählern wieder ihren Wahl-O-Mat zur Verfügung. Unter wissenschaftlicher, journalistischer, pädagogischer und behördlicher Begleitung hat eine Redaktion aus politisch interessierten Erst- und Jungwählern mehr als drei Dutzend Thesen zu verschiedenen Politikbereichen formuliert und die Positionierungen aller zur Wahl zugelassenen Parteien abgefragt. Im Wahl-O-Mat können Nutzer diese Thesen ebenfalls mit „stimme zu“, „neutral“ oder „stimme nicht zu“ beantworten, anschließend berechnet das Programm „die Übereinstimmung sowie die Nähe der Positionen der Nutzerinnen und Nutzer zu den Positionen der Parteien.“

In Zeiten von Microtargeting, postfaktischen und kandidatenzentrierten Wahlkämpfen wird dieses Konzept von vielen Sozialwissenschaftlern und Kommentatoren gelobt, weil es eine Rückkehr zu demokratischer Sachlichkeit verspricht. Doch der Wahl-O-Mat ist viel eher ein Symptom der Postdemokratie, als dass er der Wiederbelebung demokratischen Engagements dient.

Es ist gewiss kein Zufall, dass die Entdeckung des Phänomens der Postdemokratie durch den britischen Politologen Colin Crouch zeitlich in etwa mit dem ersten Wahl-O-Mat durch die bpb zusammenfiel.

Crouch versteht unter Postdemokratie die Tendenz zu einem Gemeinwesen, in dem „konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale, die man ihnen gibt.“ Als ein Symptom nennt er beispielsweise, dass „man die Bürger durch Werbekampagnen „von oben“ dazu überreden muss, überhaupt zur Wahl zu gehen.“ Während die demokratischen Institutionen also „formal weiterhin vollkommen intakt sind (und heute sogar in vielerlei Hinsicht weiter ausgebaut werden), entwickeln sich politische Verfahren und die Regierungen zunehmend in eine Richtung zurück, die typisch war für vordemokratische Zeiten“. Obwohl der Wahl-O-Mat auf die Förderung des politischen Interesses und eine Steigerung der Wahlbeteiligung abzielt, enthält er mehrere postdemokratische Elemente.

Keine Wähler sondern Konsumenten

So richtet sich die Wahl-O-Mat-Redaktion bei der Auswahl der Thesen nicht nach den Interessen der Nutzer, sondern nach den Wahlprogrammen der antretenden Parteien. Das ist einerseits folgerichtig, schließlich dient er der sachthemenbezogenen Information darüber, was zur Wahl steht. Was nicht zur Wahl steht, kommt damit andererseits im Wahl-O-Mat-Kosmos überhaupt nicht vor. Die Nutzer werden dadurch in ihrer politischen Bedürfnisartikulation Konsumenten gleich auf das Angebot der Parteien ausgerichtet, nicht umgekehrt.

Zwar orientieren sich die Thesen, die ein möglichst breites Themenspektrum abdecken sollen, an den für die jeweilige Wahl als wichtig identifizierten Sachthemen. Entscheidend für die Aufnahme einer These in den Wahl-O-Mat ist jedoch eine hohe Unterscheidbarkeit aufgrund möglichst kontroverser Positionierungen der befragten Parteien. Das kann einerseits dazu führen, dass wichtige und komplexe Themen, die keiner einfachen Polarisierung zugängig sind, nicht oder nur entstellt vorkommen. Andererseits kann die Aufnahme abseitiger, aber kontroverser Themen die Pluralität des Parteienspektrums überzeichnen.

Dieser Effekt wird durch die gleichwertige Behandlung politischer Fragen von unterschiedlicher Wichtigkeit noch verstärkt. Inzwischen können Nutzer die Antworten auf für sie wichtige Thesen zwar doppelt gewichten. Doch statistisch haben diese Gewichtungen nur einen mäßigen Einfluss. Außerdem ist mit der persönlichen Gewichtung überhaupt nicht garantiert, dass diese Themen auch für die jeweiligen Parteien von solch großer Bedeutung sind, dass sie beispielsweise in Koalitionsverhandlungen zur ernstzunehmenden Verhandlungsmasse würden.

Was heißt hier neutral?

Auch die Antwortoption „neutral“ ist irreführend. Denn sie bedeutet kein Abstandnehmen von einer Positionierung, sondern, wie sich in den FAQ erfahren lässt, eine Zustimmung „unter bestimmten, möglicherweise weitreichenden Bedingungen“. Nutzer, die öfter nur ihre bedingte Zustimmung zu den polarisierenden Positionen geben würden, ruft der Wahl-O-Mat allerdings zur Mäßigung auf. Denn „zu viele neutrale Positionen [sic] oder übersprungene Thesen erschweren die Berechnung eines aussagekräftigen Ergebnisses bzw. machen dies unmöglich.“

Was inhaltliche Zweifel wecken sollte, hat hier mathematische Gründe. Denn jede mit „neutral“ beantwortete These gilt unabhängig der Parteienposition mindestens als halbe Übereinstimmung. Wer alle Thesen mit „neutral“ beantwortet, würde nach der Rechnungsweise des Wahl-O-Mats also mit jeder Partei mindestens zu 50% übereinstimmen. Hinzu kommt: Die Gründe für eine bedingte Zustimmung können unter den Nutzern wie zwischen den Parteien recht vielfältig und mitunter gegensätzlich sein. Beispielsweise positionierten sich zur 32. These des aktuellen Wahl-O-Mats („Islamische Verbände sollen als Körperschaften öffentlichen Rechts anerkannt werden dürfen.“) sowohl CDU/CSU als auch DKP und MLPD „neutral“. Während erstere sich ausdrücklich zum „Kooperationmodell von Staat und Kirche“ bekennen, allerdings auf die zu erfüllenden Voraussetzungen für eine religiöse Körperschaft öffentlichen Rechts verweisen, halten es zweitere aus Gründen der Gleichbehandlung zwar für geraten, „allen Religionsgemeinschaften die gleichen Rechte wie der christlichen Kirche“ einzuräumen, sprechen sich jedoch eigentlich grundlegend für die vollständige Trennung von Staat und Kirche aus. Der Wahl-O-Mat unterscheidet hier jedoch nicht weiter, sondern bewertet die Auswahl „neutral“ in beiden Fällen völlig widersinnig als vollkommene Übereinstimmung.

Ein weiteres Problem: Die Ermittlung der Übereinstimmungen fußt auf potenziell postfaktischer Grundlage. Denn die Antworten der Parteien werden von der Wahl-O-Mat-Redaktion nicht auf eine tatsächliche Übereinstimmung mit deren politischen Positionen überprüft. Bei vergangenen Wahlen gab es deshalb wiederholt Kritik, dass Positionierungen im Wahl-O-Mat nicht mit den Wahl- oder Parteiprogrammen bzw. dem Regierungshandeln einzelner Parteien übereinstimmten.

Keine Wahlempfehlung – aber Nudging

Trotz aller Mängel erfreut sich der Wahl-O-Mat steigender Beliebtheit: bpb-Präsident Thomas Krüger sprach zur letzten EU-Wahl bereits stolz von dessen Nutzung als „demokratischem Volkssport“. Wurde der Wahl-O-Mat bei der letzten Bundestagswahl 15,7 Millionen Mal durchgespielt, erreichte er diesmal bereits innerhalb der ersten Woche fast 12 Millionen Nutzer. Zu dieser Verbreitung tragen auch 58 Medienpartner aus öffentlich-rechtlichem Rundfunk und privaten Print- und Onlinemedien bei.

Obwohl die international vergleichende Forschung ihn zu den Voting Advice Applications zählt, will der Wahl-O-Mat seinen Nutzern keine Wahlempfehlung geben. Zwar umwirbt die bpb Interessierte mit Sätzen wie: „Vergleichen Sie Ihre eigenen Ansichten mit den Positionen der einzelnen Parteien und finden Sie heraus: Welche Partei vertritt Ihre Meinung am besten?“ Nach dem Empfehlungscharakter befragt, rudert sie jedoch stets zurück und spricht von der berechneten Übereinstimmung nur noch als einem „Startpunkt, um sich noch besser über die zur Wahl stehenden Parteien zu informieren“.

Insofern mag die Einschätzung des Kommunikationswissenschaftlers Frank Brettschneider zutreffen, dass der Wahl-O-Mat nicht wahlentscheidend ist. Seinen Zweck als postdemokratische Integrationsmaschine erfüllt die Online-Wahlentscheidungshilfe dennoch. Denn die Nutzer werden einer Meinungsbefragung gleich als Konsumenten angesprochen, denen der Algorithmus schließlich „alle Parteien geordnet nach der Nähe zur eigenen Position“ präsentiert. Die thematische Vorauswahl demonstriert einen Pluralismus im Detail, der sich schließlich in eine stets vorausgesetzte und lediglich graduell verschiedene Übereinstimmung mit dem Wahlangebot übersetzt. Der Wahl-O-Mat mag seinen Nutzern damit die Abgabe ihrer Wahlstimme erleichtern, einer Revitalisierung der Demokratie erweist er hingegen einen Bärendienst.

Denn obwohl der Wahl-O-Mat eine Wahlempfehlung weder abgeben kann noch will, überlässt die bpb seine Nutzer nicht einfach ihren Ergebnissen. „Fragen Sie sich auch, welche Gründe vielleicht dagegen sprechen, einer Partei Ihre Stimme zu geben?“, rät sie ihnen und appelliert sogleich ans staatsbürgerliche Gewissen: „Würden Sie eine Partei auch dann wählen, obwohl diese vom Verfassungsschutz beobachtet“ wird?

Damit sich Nutzer diese Frage nicht grundlegend, bei entsprechendem Anlass jedoch zwingend stellen, hat die dem Bundesinnenministerium zugeordnete Behörde bei der Einrichtung des Wahl-O-Mats vorgearbeitet. Seit nach einem Gerichtsurteil 2008 alle zur Wahl zugelassenen – und damit auch die extremistischen – Parteien einbezogen werden müssen, vergleicht der Wahl-O-Mat die Positionierungen der Nutzer nicht mehr automatisch mit allen Parteien, sondern allein mit den von ihnen selbst aktiv ausgewählten. Zugleich erhalten sie bei der Auswahl einer als extremistisch geltenden Partei einen Hinweis auf die entsprechende Einstufung durch den Inlandsgeheimdienst.

Crouch zählt dieses aus dem Marketing adaptierte Nudging zu den postdemokratischen Techniken, da es die Bürger verleiten soll, „bestimmte Dinge zu tun, ohne dass sie sich dessen gewahr werden – was nichts anderes heißt, als sich ihren Mangel an Wissen und Information zunutze zu machen.“ Was den Wahl-O-Mat betrifft, läuft diese implizite Anrufung staatsbürgerlicher Sittlichkeit den selbsterklärten Zielen sogar potenziell zuwider. Denn politische (Selbst-)Aufklärung wird unterlaufen, wo der Abgleich nicht mit allen Positionen gleichermaßen gesucht oder – unter Verweis auf ein in seinem Urteil notwendig intransparentes Amt – davon abgeraten wird. Und wenn ein Nutzer seine Positionierungen aufgrund fehlender Neugier an unbekannten Parteien oder freiheitlich-demokratischer Botmäßigkeit nicht mit allen zur Wahl stehenden Parteien vergleicht, können ihm die mit den meisten Übereinstimmungen auch verborgen bleiben.

Kontraproduktiver Antiextremismus

Abseits dieser paternalistischen Einhegung zeigt sich hier die Kehrseite der Konstruktion von Übereinstimmungen und deren vorgeblicher Sortierung „nach der Nähe zur eigenen Position“. Denn die Rückmeldungen von Lehrkräften zeigen, „dass es immer wieder erstaunte und erschreckte Reaktionen der Schülerinnen und Schüler gibt, wenn sie beim Ergebnis des Wahl-O-Mat rechtsextreme Parteien wie die NPD an einer der ersten Plätze erhalten.“

Wer darüber erschrickt, der weiß, was moralisch geboten ist und die bpb kann entsprechend beruhigen: „Eine mittlere oder hohe Übereinstimmung mit extremistischen Parteien im Wahl-O-Mat bedeutet […] nicht unbedingt, dass Sie selbst rechts- oder linksextremistisch eingestellt sind.“

Darüber lässt sich sicherlich streiten. Tatsächlich gibt es jedoch einen Hinweis darauf, wie hilflos der antiextremistische Demokratieschutz im Wahl-O-Mat ist. Denn laut Leipziger Autoritarismus-Studien präferierten rechtsextrem eingestellte Menschen in Deutschland bis 2014 überwiegend die beiden Volksparteien CDU und SPD. Seitdem neigen diese Menschen jedoch mehrheitlich der AfD zu.

Immerhin in einer Hinsicht hat der im Wahl-O-Mat praktizierte Antiextremismus zu einer Verbesserung desselben beigetragen: Um Nutzern die Identifizierung von und Abgrenzung zu weltanschaulich-extremistischen Parteien zu ermöglichen, wurden 2009 kurze Begründungen der Parteien zu jeder Positionierung aufgenommen. Wenngleich es sich dabei häufig um nicht mehr als sinngemäße Auszüge aus den Wahlprogrammen handeln wird, ist es für den Zustand unserer Demokratie bezeichnend, dass erst die Abwehr der Extremisten die bürgerlichen Parteien zur inhaltlichen Auseinandersetzung nötigte.

Christoph Hornbogen hat Politikwissenschaft studiert und lebt in Leipzig

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