Die Menschenrechte und die durch sie begründeten Grundrechte sind in pluralistischen Gesellschaften die Grundlage des demokratischen und sozialen Rechtsstaats. Und doch ist es umstritten, ob und wie sie in unterschiedlichen Kulturen und Gesellschaften in nationale und transnationale Rechtssysteme eingebaut („implementiert“) werden können.
Im Streit wird oft vergessen: Es gibt einen faktischen Kulturenpluralismus, aber normativer Rechtsrelativismus ist keine zwingende Folge. Was Menschenrechte sind und dass sie universell gelten, ist als zwingendes internationales Recht (jus cogens) aller gegenüber allen (erga omnes) definiert und gegen politische und wirtschaftliche Opportunität nicht abwägbar.
Dies ist ein Ergebnis der mit den Prozessen in Nürnberg
in Nürnberg und Tokio eingeleiteten Revolution im Völkerrecht. Die Menschenrechte sind einklagbar und die Maßstäbe des Schutzes vor Verletzungen sind ungeachtet kulturell unterschiedlicher moralischer und rechtlicher Üblichkeiten im Menschenrechte-Recht vorgegeben.Die rechtliche Universalität und politische, ökonomische, soziale und kulturelle Unterschiede spiegeln sich in den die „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ (1948) begleitenden transnational-regionalen Deklarationen wie zum Beispiel der europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (1950), der Convención Americana sobre Derechos Humanos (1969), der afrikanischen Charta der Rechte der Menschen und Völker (1981) oder in vier Erklärungen der Menschenrechte im Islam (1981 bis 2004).Die Menschenrechte haben sich in dem Maße in ihrer transkulturellen Universalität normativ bewährt, wie sie auf dem Niveau der „Allgemeinen Erklärung“ und der ihnen folgenden Pakte und Konventionen implementiert worden sind. Dass die normative Bewährung nicht automatisch eine Bewährung in der Praxis bedeutet und Menschenrechte faktisch verletzt werden, mindert ihre Geltung nicht.MenschenrechtsschutzZum universellen Menschenrechtsschutz liegen gute Dokumentationen vor. Eine für die Rechtsvergleichung und Rechtspolitik hilfreiche Materialsammlung zum regionalen Schutz fehlte bis jetzt. Diese Lücke haben die Völkerrechtsexperten Waldemar Hummer und Wolfram Karl geschlossen, indem sie auf 1223 Seiten eine konkurrenzlos vollständige Dokumentation der regionalen Menschenrechtsschutzkonventionen einschließlich der jeweiligen Verfahrensregeln vorgelegt haben: 67 mehrsprachig wiedergegebene Abkommen in Europa (Teilband I/1: Europarat, KSZE/OSZE, EU, GUS), in Nord- und Südamerika (OAS, Andengemeinschaft), in Afrika (OAU/AU, Charta von Banjul) sowie im arabisch-islamischen und im asiatisch-pazifischen Raum (Teilband I/2).Die jeweiligen Dokumentengruppen werden durch kommentierende historische und systematische Einführungen, durch Angaben zu den Vertragsparteien (Unterzeichnung, Ratifikation/Beitritt, Inkrafttreten), zu Kontakten und Internet-Links sowie zu wichtiger Literatur vorzüglich erschlossen. Angekündigt ist ein Band II Spezielle Schutzbereiche, der alle Abkommen zu besonderen Schutzbereichen (zum Beispiel Flüchtlingen, Vertriebenen, Minderheiten, Frauen, Kindern) oder zu besonderen Themen (zum Beispiel Bioethik) enthalten wird.Diese Dokumentation erleichtert den interkulturelle Rechtsvergleich, und dies ist gerade angesichts der gegenwärtigen Auseinandersetzungen um den Islam wichtig. Während alle anderen regionalen Menschenrechtsinstrumente religiös und weltanschaulich neutral und kulturenübergreifend konzipiert sind, gilt dies für die islamisch-arabischen Menschenrechtserklärungen und -charten nicht; sie grenzen sich von den universellen Rechtsnormen ab. Das Motiv: Israel steht für „Rassismus und Zionismus“. Die These: Die islamischen Menschenrechte seien eine verbindliche Rechtsordnung, während die universellen Menschenrechte nur den Status moralischer Empfehlungen hätten.Seit der 1981 verkündeten, im nicht-staatlichen Rahmen des Islamischen Rates und in Verbindung mit der konservativen Muslim World League ausgearbeiteten und rechtlich unverbindlichen „Universellen Islamischen Deklaration der Menschenrechte“ werden zwei auch innerhalb der arabischen Welt umstrittene Ziele verfolgt; es soll erklärt werden, dass die Menschenrechte integraler Bestandteil der Scharia seien und der Koran nicht im Widerspruch zur universellen Menschenrechtskonzeption stehe.Die 1990 von der „Organisation der Islamischen Konferenz“ in Kairo angenommene zwischenstaatliche, völkerrechtlich nicht bindende „Islamische Menschenrechtsdeklaration“ („Art. 24: Alle in der Deklaration festgesetzten Rechte und Freiheiten sind der Scharia unterworfen“) und die wegen ihrer religiös-traditionalistischen Tendenz auch von arabischen Staaten kritisierte „Arabische Menschenrechtscharta“ von 1994 verfolgen diese Tendenz.Die von der Arabischen Liga 2004 revidierte und 2008 völkerrechtlich in Kraft getretene Fassung weicht zwar insofern hiervon ab, als in der Präambel die Grundsätze der VN und der „Allgemeinen Erklärung“ verbal bestätigt und in Art. 43 Rechte und Freiheiten, auch von Frauen, Kindern und Minderheitsangehörigen, gemäß den internationalen Menschenrechtsinstrumenten geschützt werden; sie beruft sich aber auf die Kairoer Erklärung von 1990 und stellt so eine Quadratur des Kreises dar. Sie wurde nur von 7 der 22 – in der Regel nicht demokratisch legitimierten – Staaten der arabischen Liga ratifiziert. Ein Menschenrechtskomitee ist in Art 45 ff vorgesehen, nicht aber die Möglichkeit der Individualklage. Einen arabischen Menschenrechtsgerichtshof gibt es nicht.Unmenschliche Strafen, die Fatwa gegen Salman Rushdie, das islamistische Taliban-Regime und die Scharia stehen in schlechtem Ruf. Aber wer weiß schon, dass Scharia der Name für das gesamte islamische theologische System ist, in dem das Strafrecht nur einen kleinen Teil ausmacht? Wer weiß, dass die Scharia kein kodifiziertes Recht, sondern ein System der Rechtsfindung ist, während das islamische Recht (Fiqh) als Menschenwerk historischen Veränderungen unterworfen ist? Dieses Recht ist nur wenigen Spezialisten bekannt.Das islamische RechtDeshalb ist Mathias Rohes 2009 erschienene Einführung Das islamische Recht. Geschichte und Gegenwart zu begrüßen. Der Professor für Rechtsvergleichung in Erlangen, Vorsitzender der „Gesellschaft für Arabisches und Islamisches Recht“ und Mitglied der von der Bundesregierung einberufenen Islamkonferenz ist ein ausgewiesener Kenner. Seine Darstellung ist lesenswert – allein schon deshalb, weil zu lernen ist, dass es "das islamische Recht" nicht gibt. Rothe zeigt in seinen Erläuterungen zur Entstehung der islamischen Staats- und Rechtsordnung, zur islamrechtlichen Dogmatik und zu den Regelungsbereichen des klassischen islamischen Rechts – vom Ehe- und Familienrecht über das Vertrags- und Wirtschaftsrecht bis zum Strafrecht, Staats- und Verwaltungsrecht und Völkerrecht – sowie zu Kernbereichen des modernen islamischen Rechts, wie die Glaubensspaltung zwischen Sunniten, Schiiten und Sekten die Rechtsentwicklung geprägt hat.In seinem unter anderem von der Gerda-Henkel-Stiftung, die einen neuen Schwerpunkt „Islam, moderner Nationalstaat und transnationale Bewegungen“ eingerichtet hat, geförderten Buch widmet er sich im dritten Teil „Wegen des islamischen Rechts in der Diaspora“, in Indien, Kanada und vor allem in Deutschland. Der programmatische Schlussteil skizziert „Perspektiven des islamischen Rechts in einer globalisierten Welt“.Rohe will über das islamische Recht „in der gebotenen wissenschaftlichen Distanz“ informieren. Er will, schreibt er in der Einleitung, „dem islamischen Recht als lebendigem Recht Rechnung tragen“. Gegen verbreitete „Stereotype“ – „Handabhacken, Auspeitschen oder Steinigen von Ehebrechern, Tötung Andersgläubiger und Benachteiligung von Frauen“ – geht es ihm um Aufklärung: „Auch islamisches Recht ist Recht“, Recht, über dessen Funktion und Legitimation auch im Islam gestritten werde, Recht, das es so wenig als "das islamische Recht" gebe wie man „das europäische Recht“ behaupten könne.Das Buch hat ungewöhnlich großes öffentliches Interesse und Anerkennung gefunden: Ein „Standardwerk“ sei es, ein wichtiger Beitrag zur „Versachlichung der Debatte“. Und es hat scharfe Kritik provoziert: Hier bemühe sich ein Freund des Islam, den religiösen Horizont auszublenden und das islamische Recht einseitig als weltliches Recht vorzustellen. Es bleibe rätselhaft, warum sich Verfassungen auf den Islam als einzige die Quelle des Rechts berufen und die Einführung des islamischen Rechts religiösen Leidenschaften hochpeitsche. Die religiösen Fundamente des islamischen Ehe- und Scheidungsrechts würden nicht problematisiert. Das für die Scharia wesentliche Ritualrecht werde verschwiegen.Das lehrreiche Buch hat blinde Flecken. Ist die von islamischen Frauenrechtlerinnen beklagte Benachteiligung wirklich nur eine „Stereotype“? Warum sind die problematischen Menschenrechtserklärungen im Islam kein Thema? Kann man die „Menschenrechts- und Demokratiedebatte“ als „große Herausforderung an das islamische Recht“ bezeichen und ihr doch nicht mehr als zwölf Zeilen verharmlosender Bemerkungen widmen? Warum gibt es im historischen Teil des Buches einen Abschnitt zum Völkerrecht, im Teil zur Moderne aber nicht? Mut zur Lücke oder Methode?Rohes Position ist nicht eindeutig. In einem Interview in der Frankfurter Rundschau sagt er 2002: Die Beantwortung entscheidender Fragen „überlassen wir den Muslimen selbst. Wenn sie plausibel machen können, was sie als religiöses Gebot verstehen, dann ist das zunächst zu akzeptieren.“ Gilt das auch für ein fundamentalistisches Verständnis? In Welt Online ist dagegen 2007 zu lesen: „Es ist für eine auf Dauer hier lebende Bevölkerungsgruppe, die Teil unserer Gesellschaft geworden ist, hohe Zeit, religiöse Grundlagen zu formulieren und Interpretationen zu finden, die sich in den unverzichtbaren Rahmen des säkularen demokratischen Rechtsstaats einfügen.“ Das klingt besser.
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